Stimmen zu Gauck-Interview im SPIEGEL "Logisch ist das nicht"

SPIEGEL-Gespräch mit Joachim Gauck
Foto: Gene Glover/ DER SPIEGELJoachim Gauck, 79, hat mit Aussagen im aktuellen SPIEGEL über das Wochenende für Aufregung gesorgt (lesen Sie hier das gesamte Interview: "Wir müssen lernen, mutiger intolerant zu sein" ) .
Unter anderem forderte er von der CDU eine "erweiterte Toleranz in Richtung rechts". Er warnte aber auch davor, Rassismus und Intoleranz nicht entschieden genug zu begegnen. Das Verhalten aller anderen Fraktionen im Bundestag, bislang jeden AfD-Kandidaten bei der Wahl zum Bundestagsvizepräsidenten abzulehnen, nannte Gauck einen "problematischen Weg".
Er persönlich halte die AfD zwar für "verzichtbar". Weil sie aber da sei, müsse man sie als "politischen Gegner betrachten" und mit ihr streiten. Dennoch würde Gauck mit Alexander Gauland, früher CDU-Mitglied und heute AfD-Chef, nicht öffentlich diskutieren wollen. Dafür habe er "nicht genug Achtung" vor ihm.
Das Gespräch mit dem Altbundespräsidenten Gauck ist aktuell Thema in den Kommentarspalten vieler Medien. Die Pressestimmen:
Ostsee-Zeitung, Rostock
"Allzu gütig erscheint der Blick, den Gauck nach rechts wendet. Die Abgrenzung, die Gauck mit Wucht einfordert, misslingt. Seine Definitionen sind entweder banal, verwaschen oder problematisch. Konservativ bedeutet nicht rechtsextrem - geschenkt. Nicht jeden, der schwer konservativ ist, solle man als Demokratiefeind hinstellen. Ist in Ordnung. Aber wo beginnt und wo endet 'schwer konservativ'? Ist eine konservative CDU-Ikone wie Alfred Dregger aus den Kinder-Küche-Kirche-Jahren der Partei Jahrzehnte später tatsächlich noch der Maßstab? Grenzziehung, so viel wird deutlich, ist auch für einen wortmächtigen Ex-Präsidenten vertrackt. Natürlich müssen auch Konservative ihre Stimme haben in der Gesellschaft. Aber die AfD bleibt eine Partei mit Rechtsextremen in ihren Reihen."
Tagesspiegel, Berlin
"Ja, Gauck hat recht, dass es immer wieder die Diskussion um die Grenzen geben muss. Und, dass das Grundgesetz und alle anderen Gesetze die absolute Grenze sind. Doch bei der von ihm geforderten Toleranz nach rechts stößt er selbst an seine Toleranzgrenze.
Er findet es problematisch, dass die Bundestagsabgeordneten bisher jeden AfD-Kandidaten für den Posten eines Parlamentsvizepräsidenten abgelehnt haben. Aber er selbst will nicht mit dem schon immer am äußersten konservativen Rand agierenden ehemaligen CDU-Mitglied und heutigen AfD-Chef Alexander Gauland auf einem Podium sitzen - weil der sich von 'extrem Rechten unterstützen lässt' und aus seiner Sicht reaktionär ist. Wo bleibt da die Konsequenz? Logisch ist das nicht."
Neue Osnabrücker Zeitung
"Gauck kritisiert die große Mehrheit des frei gewählten Bundestages, weil sich Abgeordnete über Parteigrenzen hinweg beharrlich weigern, die AfD mit einem Stellvertreter des Parlamentspräsidenten zu adeln. Doch steht es einem ehemaligen Bundespräsidenten nicht zu, Zweifel an der 'politischen Nützlichkeit' dieses mehrfach wiederholten Votums der breiten Mehrheit zu äußern. Im Gegenteil: Mit diesem Ausrufezeichen gegen rechts zeigen die Parlamentarier in beeindruckender Konsequenz Haltung und gehen gerade nicht den einfachen Weg. Gut so."
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Essen
"Joachim Gauck piekst in die Wunde, und das Land jault auf. Die Reaktionen auf Gaucks Forderung nach mehr Toleranz für rechte Positionen zeigen, dass Gesellschaft und Politik verunsichert sind im Umgang mit dem erstarkten Milieu am rechten Rand. (...) Es gibt keinen Grund, so zu tun, als wäre die AfD eine Partei wie alle anderen. Wer 2019 in der AfD ist, hat offenbar kein Problem mit der Verharmlosung des Holocaust durch einen Parteichef, der Einstellung von Rechtsextremen als Mitarbeitern im Bundestag und Abgeordneten, die in Chats Hakenkreuz-Bildchen verschicken. Die Union muss deshalb eine Grenze ziehen. Denn sie nimmt für sich in Anspruch, dass konservative und rechtspopulistische Positionen gut unterscheidbar sind. Die Wahrheit ist, dass sie das gerade bei der CSU in den letzten Jahren zu häufig nicht waren. (...) Das hat, vorhersehbarerweise, nicht die Union größer gemacht, sondern die AfD."
Nürnberger Nachrichten
"Wir sind über viele Jahrzehnte in Deutschland sehr gut damit gefahren, dass es rechts neben der Union nur noch Radikale und Extremisten gab. Und auch die nur als Splittergruppen. Der Konsens in Politik und Bevölkerung war groß. Heute droht diese grundlegende Übereinstimmung verloren zu gehen. In manchen Bundesländern können in Zukunft vielleicht kaum noch Regierungen gebildet werden, weil die besonnenen Kräfte ihre Mehrheit verloren haben."
Münchner Merkur
"Wenn alle ganz fest die Augen zumachen und so tun, als wäre die AfD nicht da - verschwindet sie dann wieder? Nein, tut sie nicht. Stattdessen muss man sich mit dem rechten Rand differenzierter auseinandersetzen als Polarisierer im Internet, die nach Abgrenzung durch Ausgrenzung rufen. Deswegen ist es auch diffamierend, den Einwurf des Ex-Bundespräsidenten Gauck als Toleranz-für-Nazis-Quatsch abzutun. Er hat recht, weil er eine Differenzierung einfordert bei der heterogenen AfD-Wählerschaft. Noch immer sind dort frustrierte Konservative, Nationalpatrioten, Modernisierungsverlierer, apolitische Protestwähler und unverbesserlich Rechtsextreme zu finden. Wer das alles in einen Topf wirft und zu braunem Brei erklärt, mag sich vielleicht moralisch überlegen fühlen - vergibt aber die Chance, Wähler zurückzugewinnen."