FDP-Politiker Stamp "Das ist Pegida im XL-Format"

Joachim Stamp ist Vizeministerpräsident in Nordrhein-Westfalen. Hier spricht er über die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und seine Kritik an Horst Seehofers Flüchtlingspolitik.
Ein Interview von Severin Weiland
Demo gegen Corona-Maßnahmen in Berlin (am 29. August): "Wer da mitläuft, muss sich schon fragen lassen, mit wem er sich gemein macht"

Demo gegen Corona-Maßnahmen in Berlin (am 29. August): "Wer da mitläuft, muss sich schon fragen lassen, mit wem er sich gemein macht"

Foto: Patrick Graf / imago images/Future Image
Zur Person
Foto:

Federico Gambarini/ dpa

Joachim Stamp, Jahrgang 1970, ist in der schwarz-gelben Koalition in Nordrhein-Westfalen seit Ende Juni 2017 Vizeministerpräsident und Landesminister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration. 2017 folgte er in seinem Heimatland dem heutigen FDP-Chef Christian Lindner als Landesvorsitzender der Freien Demokraten.

SPIEGEL: Am Wochenende gingen in Berlin Zehntausende gegen die deutschen Corona-Beschränkungen auf die Straße. Zeitweise besetzten Demonstranten die Treppe zum Bundestag, manche schwenkten Reichsfahnen. Wie bewerten Sie die Vorgänge?

Stamp: Das waren schlimme Bilder, der Vorgang muss aufgearbeitet werden, denn offenbar waren die Berliner Verantwortlichen nicht ausreichend auf die Lage vorbereitet. Mein Dank gilt insbesondere den Polizistinnen und Polizisten, die diesen schwierigen Einsatz durchgeführt haben.

SPIEGEL: Wie stufen Sie diese Protestbewegung ein?

Stamp: Ich sehe überhaupt keine neue Bewegung, das ist Pegida im XL-Format. Nun sind ein paar zusätzliche Verschwörungstheoretiker, Esoteriker und verwirrte Friedensbewegte dazugekommen.

SPIEGEL: Manche Teilnehmer der Demonstration wehren sich dagegen, in die rechte Ecke gestellt zu werden.

Stamp: Wer da mitläuft, muss sich schon fragen lassen, mit wem er sich gemein macht. Aber unabhängig von diesen Protesten müssen wir für diejenigen, die sich Sorgen machen, die in ihrer beruflichen Existenz durch Corona bedroht sind, neue Perspektiven schaffen. Wir sollten nicht das Füllhorn über alle schütten, sondern gezielter in Weiterqualifizierung, Schulung und neue kreative Formen von Selbstständigkeit investieren.

SPIEGEL: Im Frühjahr sprach der Thüringer FDP-Chef Thomas Kemmerich auf einer Demonstration vor Kritikern der Corona-Politik in Gera. War das ein einmaliger Ausrutscher oder gibt es auch in Ihrer Partei Neigungen zu dieser Gruppe von Menschen?

Stamp: Aus dem Wochenende in Berlin haben wir gelernt, dass es aus allen politischen Spektren der Gesellschaft Menschen gibt, die für verwirrte Botschaften empfänglich sind. Aber das ist keine Linie der FDP. Wir wollen verantwortungsvolle Lockerungen und eine stärkere Regionalisierung von Schutzmaßnahmen. Mit Aluhut-Anhängern, Verschwörungstheoretikern und Antisemiten gehen die Freien Demokraten nicht auf die Straße.

SPIEGEL: Sie sind als Familienminister in Nordrhein-Westfalen seit Monaten mit Corona befasst. Werden die Eltern sich auf einen neuen Lockdown der Kitas im Herbst in NRW einstellen müssen?

Stamp: Es wird keinen erneuten, flächendeckenden Lockdown von Kitas und Schulen geben. Wir werden, wenn es sein muss, lokal reagieren, um Infektionsketten zu durchbrechen.

SPIEGEL: Als Integrationsminister sind Sie auch für Flüchtlingsfragen zuständig. Vor fünf Jahren sagte Kanzlerin Angela Merkel auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung ihren berühmten Satz: "Wir schaffen das." Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Stamp: Wir haben Hunderttausende von Flüchtlingen aufgenommen, mitunter haben wir improvisiert, insgesamt war es eine große Leistung der Zivilgesellschaft. Aber die grundsätzlichen Probleme der Migration, die Verelendung in EU-Camps auf den griechischen Inseln, ertrinkende Menschen im Mittelmeer, illegale Migration nach Deutschland bei gleichzeitig fehlenden Arbeitskräften in vielen Bereichen, diese Probleme bleiben ungelöst. Wir brauchen endlich den Übergang von einer passiven zu einer aktiven Flüchtlings- und Migrationspolitik. Wir brauchen mehr Struktur, brauchen eine Veränderung von ungeordneter zu geordneter Migration. Das erfordert Mühe, und da tut die Bundesregierung zu wenig.

"Seehofer tut zu wenig"

SPIEGEL: Nun kommen wegen Corona aber auch weniger Flüchtlinge, das Thema scheint nach hinten gerückt.

Stamp: Gerade deshalb finde ich das Verhalten von Innenminister Horst Seehofer und Außenminister Heiko Maas unverantwortlich, weil sie sich darauf beschränken, sich mit der Lage abzufinden. Ich erwarte aber einen Gestaltungsanspruch, gerade in der derzeitigen deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

SPIEGEL: Was erwarten Sie von Seehofer?

Stamp: Migrationspolitik bedeutet Detailarbeit und hohes Engagement. Das fehlt mir. Seehofer tut zu wenig. Wir haben im Bereich der Rückführungen und Abschiebungen Probleme, wir brauchen aber auch praktikable Lösungen für die Geduldeten. Ich mache mir Sorgen, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft das Thema Migration nicht energisch genug vorantreibt und es am Ende einmal mehr bei Absichtserklärungen bleibt. Da werden etwa ein neuer Verteilungsmechanismus und Verteilungszentren an den EU-Außengrenzen angekündigt - beides aber, befürchte ich, wird nicht funktionieren.

SPIEGEL: Was sind Ihre Vorschläge?

Stamp: Wir müssen mit den wesentlichen Herkunftsländern einzelne Migrationsabkommen abschließen, in denen die Rücknahme von illegal Eingereisten geklärt und im Gegenzug die Ausstellung von Visa für Studierende und Arbeitskräfte in Aussicht gestellt wird.

SPIEGEL: Sie haben kürzlich zusammen mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besucht und danach ein einheitliches Vorgehen der EU gefordert. Woran hapert es?

Stamp: Fehlende Koordination und fehlender Wille. Dabei könnten wir aus meiner Sicht das Problem in Moria mit der EU lösen. Es geht um rund 20.000 Menschen, die dort in Moria und anderen, kleineren menschenunwürdigen Lagern in unhaltbaren Zuständen leben. Die Bundesländer, auch Nordrhein-Westfalen, könnten gemeinsam rund 2000 besonders gefährdete Menschen aufnehmen – etwa alleinstehende Frauen oder Familien mit kleinen oder kranken Kindern. Aus den anderen EU-Staaten müssten weitere 3000 Plätze mobilisiert werden. Für 5000 weitere Menschen könnte man auf der Insel ein neues Lager aufbauen nach dem Vorbild von Kara Tepe, einem Camp auf Lesbos, das internationalen Standards entspricht. Dafür könnten Deutschland und die EU den Griechen logistische Hilfe anbieten. Von der griechischen Seite könnte man wiederum verlangen, weitere 5000 auf ihrem Festland unterzubringen.

SPIEGEL: Bleiben in Ihrem Plan aber von 20.000 Menschen noch 5000 übrig.

Stamp: Ich halte es für realistisch, dass man Menschen in dieser Größenordnung zur Rückkehr in ihre Heimat bewegt. Die Internationale Uno-Organisation für Migration bietet seit einiger Zeit auf Lesbos afghanischen Migranten pro Kopf 2.000 Euro im Falle einer Rückkehr an, für eine sechsköpfige Familie sind das 12.000 Euro Startkapital in Afghanistan. Davon wird, wie ich höre, auch zunehmend Gebrauch gemacht.

SPIEGEL: Aber wer soll das auf Lesbos und anderen Inseln koordinieren?

Stamp: Das Problem der EU ist, dass niemand die zentrale Verantwortung für diese Aufgabe übernimmt. Ich plädiere daher für einen EU-Sonderbeauftragten, der sich um die Situation in den griechischen Lagern kümmert und dabei auch die schwierigen Beziehungen in der Frage zwischen Griechenland und der Türkei im Blick hat. Jemand wie der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière hätte sicher das Format dafür.

SPIEGEL: Sie haben in der Vergangenheit als Minister auch Straftäter abschieben lassen, bundesweite Schlagzeilen machte der Fall Sami A. Der Flüchtlingsrat in Nordrhein-Westfalen kritisierte Sie jüngst, weil Sie einen Afghanen, der mutmaßlich zwei Mädchen vergewaltigt hat, nach seiner Verurteilung sofort in seine Heimat bringen lassen wollen. Was sagen Sie Ihren Kritikern?

Stamp: Leider gibt es bei den NGOs und auch im Flüchtlingsrat Menschen, die ihr Konzept der offenen Grenzen zum Maßstab für alle machen. Wenn wir aber einen breiten gesellschaftlichen Konsens erhalten wollen, müssen wir diejenigen, die sich einer Integration verweigern und kriminell werden, konsequent abschieben. Nur so schützen wir im Übrigen auch jene Mehrheit, die sich gut integriert.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren