Jugendgewalt Seitenwechsel mit Hindernissen

Was hat den 16-Jährigen getrieben, der in Berlin Dutzende Passanten niedergestochen hat? Im Problemkiez "Thermometersiedlung" soll eine mobile Einsatztruppe solche Ausraster verhindern: Dort werden ehemalige Schläger und Diebe zu Streitschlichtern ausgebildet.
Von Jens Todt

Berlin - Mario W. ist stinksauer. Über der Oberlippe des 28-Jährigen prangt eine verkrustete Narbe, vielleicht drei Zentimeter lang. Vor wenigen Tagen hat ihn ein Faustschlag getroffen, die Haut platzte auf, Blut floss. Nenad M., der Verursacher der Verletzung, sitzt ihm direkt gegenüber, vielleicht drei Schritte entfernt. Mario W. bemüht sich, seinen Widersacher keines Blickes zu würdigen.

Der Serbe streitet die Tat nicht ab. Wie auch? Seine rechte Hand ist von einem blauen Gips bis über die Fingerknöchel geschützt, bei der Attacke auf Mario W. brach er sich einen Handknochen. Über die Hintergründe der Auseinandersetzung gibt es zwei verschiedene Versionen. Nenad sagt, Mario habe ihm unvermittelt "eine Schelle" verpasst, notgedrungen habe er sich wehren müssen. Mario hingegen sagt, er habe sich provoziert gefühlt, und nach einem kurzen Wortwechsel habe Nenad ihm plötzlich „eine Bombe gegeben“, also mit voller Wucht in sein Gesicht geschlagen. Einer von beiden sagt nicht ganz die Wahrheit, so viel ist klar, doch die Kontrahenten geben sich unversöhnlich.

Mobile Einsatztruppe im heimischen Kiez

Eigentlich sitzen die beiden hier im Gemeindezentrum Lichterfelde, um anderen bei der Lösung von Konflikten zu helfen, doch jetzt müssen sie erst einmal über ihre eigenen Probleme reden. Gemeinsam mit sieben weiteren Kandidaten wollen sie sich zum "MKK-Practican" ausbilden lassen, einer Art Helfer bei Auseinandersetzungen. Kursleiter Oliver Lück vom Anti-Gewaltzentrum Berlin-Brandenburg will mit dem Projekt eine mobile Einsatztruppe schaffen, die dabei helfen soll, die Kriminalitätsrate in ihrem Kiez zu senken.

In den nächsten zwei Monaten will Lück die Teilnehmer fit machen für Einsätze auf der Straße. Er will ihnen die Grundlagen der konfrontativen Pädagogik erklären, bewährte Methoden der Mediation, also der Streitschlichtung, nahebringen und sie in Deeskalation schulen. Lück weiß nicht, wie viele aus der neunköpfigen Gruppe den Kurs bestehen werden. "Dies ist ein Versuch, von dem ich mir allerdings sehr viel verspreche", sagt der 39-Jährige.

Lück beschäftigt sich schon lange mit jugendlichen Straftätern. In sogenannten Anti-Aggressivitäts- und Coolnesstrainings konfrontiert er sie mit ihren Taten. Mit kuscheliger Gesprächstherapie hat das Programm jedoch nichts zu tun. Auf dem "heißen Stuhl" etwa, fester Bestandteil der Trainings, müssen die Gewalttäter Rechenschaft über ihr Verhalten ablegen. Bei der intensiven Befragung lassen häufig auch schwerste Schläger die Maske fallen und brechen in Tränen aus. "Die spüren, dass sich jemand für sie interessiert", sagt Lück, "für viele ist es das erste Mal in ihrem Leben."

Nach Angaben des Anti-Gewalt-Zentrums hat das schonungslose Programm großen Erfolg. "Knapp zwei Drittel der Teilnehmer werden danach nicht mehr straffällig", so Lück, "der Rest fällt nur noch mit minderschweren Delikten auf." Jetzt will Lück sein Programm erweitern und einen Schritt weiter gehen. Ehemalige Täter sollen jene Problemviertel befrieden, die mit herkömmlichen Mitteln nur noch schwer zu kontrollieren sind.

„Street Credibility“ als Ausgangsqualifikation

Wer seine Kindheit zwischen den Hochhäusern der "Thermometersiedlung" verbracht hat, einem sozialen Brennpunkt, benannt nach der Celsius- und der Fahrenheitstraße in Lichterfelde, hat Sozialarbeitern mit herkömmlicher Ausbildung etwas voraus: Er kennt die kleinen Gesten, die Blicke und Sprüche, mit denen man sich in der rauen Gegend Respekt verschaffen – oder aber Ärger einhandeln kann. Wer die Gesetze des Kiezes nicht lernt, geht hier schnell unter. Das "Abziehen" anderer gehört hier zum normalen Leben, Drogenhandel und Schlägereien sind an der Tagesordnung.

In der „Thermosiedlung“ leben die verschiedenen ethnischen Gruppen nicht in abgeschotteten Parallelgesellschaften wie etwa in Neukölln. In den Hochhäusern rund um das triste Einkaufszentrum, in dem jeder zweite Laden leersteht, herrscht eine brisante Mischung vor aus Arabern, Ex-Jugoslawen, Russen, Türken und Deutschen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, eine Perspektive hat hier kaum jemand. In der Kneipe "Zum Thermometer" gibt es zur "Happy Hour" Bier für einen Euro, ein Korn ist für 50 Cent zu haben. Kleinkinder schlagen sich zum Teil ohne jede Aufsicht auf den Straßen durch, die Atmosphäre ist angespannt, hier kann die Gewalt jederzeit eskalieren.

„Sind die Vorstufe zu Neukölln“

Wie vor wenigen Wochen, als ein betrunkener Erwachsener einen Teenager auf offener Straße geschlagen hat. „Der Kleine hatte seine Freunde dabei“, erzählt Kursteilnehmer Samy H., „die waren vielleicht 12 oder 13 Jahre alt.“ Die Gruppe habe sich ohne Vorwarnung auf den Mann gestürzt, ihn geschlagen und zu Boden gerissen. „Am Ende ist er um sein Leben gelaufen“, so Samy H.

Mario W. findet allerdings, dass die Lage in seinem Viertel nicht hoffnungslos ist. „Wir sind doch nur die Vorstufe zu Neukölln.“ Aber die Stimmung sei anders als früher in seiner Kindheit. „Selbst die Jüngsten haben keinerlei Respekt mehr vor irgendwem.“

Die acht Männer zwischen 17 und 28 Jahren und eine 27-jährige Frau sitzen im Halbkreis um Oberkommissarin Ulrike Wischner herum. Die zierliche Polizistin kann ihre Skepsis nicht vollständig verbergen. Das mag damit zu tun haben, dass die Präventionsbeamtin des Polizeiabschnitts 46 einige der Teilnehmer des Programms seit Jahren recht gut kennt - und zwar aus ihren Dienstakten. Einige der neun Anwärter auf den "MKK-Practican" haben bereits durch Schlägereien, räuberische Erpressung, Diebstähle und andere Delikte die Aufmerksamkeit der Ermittler auf sich gezogen.

Wischner hat den Termin im Gemeindehaus dennoch angenommen, weil sie "um Vertrauen werben" wolle, wie sie sagt. Nun erzählt sie von ihrer Arbeit. 22 Schulen gehören zu ihrem Bereich, regelmäßig erzählt sie Grundschülern, dass der erzwungene Besitzerwechsel eines Handys kein Kavaliersdelikt, sondern räuberische Erpressung ist. Wischner berichtet vom mühsamen Polizeialltag auf den Straßen Berlins, von Jugendrichtern, die Strafen immer wieder zur Bewährung aussetzen, selbst bei Intensivtätern.

"Haben Polizei nicht ernst genommen"

„Hätte ich früher einen richtigen Warnschuss bekommen, wäre mir mehr geholfen gewesen“, sagt einer aus der Runde, der sich mehrfach wegen Körperverletzung und Raubdelikten vor Gericht verantworten musste. „Im Grunde haben wir die Polizei gar nicht ernst genommen, weil uns sowieso nichts passiert ist.“

Zur Einstimmung auf die Ausbildung zeigt Lück den Teilnehmern eine Dokumentation des rbb über Jugendgewalt in Berlin. Jugendgangs erzählen von ihrem Alltag aus Gewalt und Frustration, produzieren sich mit Imponiergesten vor der Kamera. Die Aufnahme eines Fotohandys zeigt, wie ein Jugendlicher auf der Straße brutal zusammengeschlagen wird. „Also für mich war da nichts Neues dabei“, sagt einer der Teilnehmer hinterher in der Diskussion, „das ist doch inzwischen völlig normal.“

Wenn alles gut läuft, erhalten die Teilnehmer Mitte Juli ihr Abschlusszertifikat. Dann müssen sie sich auf den Straßen der "Thermometersiedlung" bewähren, "unter straffer Führung", wie Kursleiter Lück betont. Die Ausbildung könnte für einige das sein, was sie bisher noch nie hatten: eine Perspektive. „Man muss etwas tun“, sagt der 21-jährige Dimitri B., „irgendwann werde ich auch Kinder haben.“ Er schaut zu Boden. „Die sollen anders aufwachsen.“

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