NRW-Minister Laumann über Corona-Maßnahmen "Wir haben auch Existenzen vernichtet"

In vier Schlachtbetrieben in NRW gibt es Corona-Ausbrüche. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann spricht über die Schwächen der Fleischindustrie und die Folgen des Shutdowns.
Ein Interview von Lukas Eberle
Geschlossenes Geschäft auf der Düsseldorfer Königsallee

Geschlossenes Geschäft auf der Düsseldorfer Königsallee

Foto: Martin Gerten/dpa

SPIEGEL: Herr Laumann, haben Sie sich mal überlegt, Vegetarier zu werden?

Laumann: Nein, ich bin auf dem Bauernhof groß geworden.

SPIEGEL: In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Skandale in der Fleischindustrie. Zurzeit legt die Coronakrise die Verhältnisse offen, unter denen viele Arbeiter in Schlachthöfen ackern müssen. Im Westfleisch-Werk in Coesfeld gab es einen heftigen Corona-Ausbruch, von den rund 1200 Beschäftigten haben sich über 260 infiziert. Wie konnte das passieren?

Laumann: Das kann derzeit niemand genau sagen, dafür ist es zu früh. Ich versuche, den Fall wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Vermutlich hängt es damit zusammen, wie die Arbeiter untergebracht waren und wie sie von ihren Wohnungen zum Schlachtbetrieb und zurückgefahren wurden.

SPIEGEL: Der Schlachthof in Coesfeld ist derzeit geschlossen. Sie haben das Unternehmen aufgefordert, ein Hygienekonzept vorzulegen.

Laumann: Ein Schlachthof hat ja immer ein Hygienekonzept, wir verlangen nun ein erweitertes. Das muss auch die Aspekte der Unterbringung und des Transports zur Arbeitsstätte umfassen. Wir wollen, dass die Wohnsituation den Standards entspricht, was Infektionsschutz und Hygiene angeht. Es muss mehr Platz in den Bussen geben, mit denen die Arbeiter zum Werk gebracht werden.

SPIEGEL: Liegt das Konzept schon vor?

Laumann: Ja, seit Donnerstagabend. Das örtliche Gesundheitsamt hat ein paar Nachfragen, die muss Westfleisch beantworten. Davon hängt ab, ob die Stadt Coesfeld dem Schlachthof erlaubt, die Arbeit wieder aufzunehmen.

SPIEGEL: Viele Menschen, die für Westfleisch arbeiten, kommen aus Osteuropa. Wo sind die Infizierten jetzt untergebracht?

Laumann: Die Sammelunterkünfte wurden aufgelöst. Viele der Betroffenen sind in ein Hotel gezogen, andere sind im Gästehaus eines Klosters untergebracht. Das hat der Schlachthofbetreiber angemietet.

SPIEGEL: Sie haben alle Beschäftigten von Schlachtbetrieben in Nordrhein-Westfalen auf das Coronavirus testen lassen, insgesamt rund 20.000 Personen. Was kam dabei raus?

"Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe"

Karl-Josef Laumann über die Infektionszahlen in den NRW-Schlachthöfen

Laumann: Ungefähr 60 Prozent der erfolgten Tests sind ausgewertet. Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Es gibt in vier Betrieben nennenswerte Infektionsherde, in Coesfeld, Oer-Erkenschwick, Schöppingen und Bochum.

SPIEGEL: Sie haben schon im Herbst 2019 Schlachthöfe kontrollieren lassen. Es wurden Tausende Verstöße festgestellt, bei der Arbeitszeit oder beim Mindestlohn. Es kann Sie nicht wundern, dass die Fleischindustrie auch in puncto Hygiene schlampt.

Laumann: Moment mal, wir haben Tausende Schlachthofmitarbeiter getestet, die nicht infiziert sind. Es stimmt aber auch, dass wir bei den Kontrollen im Herbst gesehen haben, wie das zum Beispiel mit der Arbeitszeiterfassung läuft. Die Mitarbeiter müssen ihren Arbeitsbeginn und ihr Arbeitsende aufschreiben, mitunter wird es so gemacht, dass das niemand entziffern kann. Weil es eben nicht entziffert werden soll. Was wir jetzt in Coesfeld erleben, müssen wir zum Anlass nehmen, Dinge zu verändern.

SPIEGEL: Hätten Sie das nicht längst tun können?

Laumann: Die Rechtskompetenzen liegen beim Bund, dort muss es eine Gesetzesänderung geben.

SPIEGEL: Inwiefern? 

Laumann: Bislang konnten die Schlachthofbetreiber ihr Geschäft so organisieren, dass sie mit der Unterbringung ihrer Beschäftigten nichts zu tun haben. Das übernehmen Subunternehmer, das ist der wunde Punkt. Wir brauchen eine Art Generalunternehmerhaftung der Betriebe. Und der Arbeitsschutz muss diese Wohnungen kontrollieren können. Ich halte das auch aus europäischen Gründen für wichtig. Wir dürfen in Rumänien, Bulgarien und Ungarn nicht den Eindruck erwecken, als würden wir mit ihren Landsleuten nicht vernünftig umgehen.

SPIEGEL: Wegen des Vorfalls bei Westfleisch rutschte der Kreis Coesfeld über die Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen. Die Lockerungen der Auflagen für Restaurants und Geschäfte wurden daher um eine Woche verschoben - wie geht es weiter?

Laumann: Ab Montag gilt in Coesfeld dieselbe Rechtsgrundlage wie im Rest von Nordrhein-Westfalen. Wenn man die Schlachthofmitarbeiter rausrechnet, haben wir 7,3 Infizierte in sieben Tagen auf 100.000 Bürgerinnen und Bürger. Es gibt keinen Grund mehr, die Menschen in Coesfeld besonders zu beschränken.

SPIEGEL: Bund und Länder haben mit der 50-pro-100.000-Regel die sogenannte Notbremse eingeführt, ab dieser Grenze sollen Kreise Corona-Maßnahmen wieder verschärfen. Ist das ein gutes Instrument?

Laumann: Ja. Es ist Zeit, dass wir Neuinfektionen mit regionalen Lösungen begegnen.

SPIEGEL: Das fällt vielen nicht so leicht. Neben Coesfeld haben auch andere Kreise in Deutschland diese Grenze vorübergehend überschritten, doch in Rosenheim, Greiz oder Sonneberg tat man sich schwer, die Lockerungen zurückzustellen. Was sagt uns das?

Laumann: Ich will das nicht kommentieren. Der Landrat von Coesfeld erzählte mir, dass die Beschäftigten des Schlachthofs nach Feierabend gerne in die Supermärkte gehen, um dort einzukaufen. Da war mir sofort klar, dass ich die Notbremse ziehen muss.

SPIEGEL: Wie stellen Sie sicher, dass die Kreise nicht einfach die Testkapazitäten so weit herunterfahren, dass die 50er-Grenze nicht mehr erreicht wird?

Laumann: Wir haben in Nordrhein-Westfalen pro Woche zwischen 75.000 und 85.000 Tests. Ich schaue darauf, dass diese Zahl stabil bleibt. Außerdem glaube ich nicht, dass auch nur ein Landrat oder Bürgermeister ein Interesse an einem unkontrollierbaren Ausbruch in seiner Kommune hat.

"Ich werde ein gewaltiges Maskendepot anlegen"

Karl-Josef Laumann über die Vorbereitung auf eine mögliche zweite Corona-Welle

SPIEGEL: Geht man durch Parks, fällt auf, wie schnell die Abstandsregeln in Vergessenheit geraten sind. Wie groß ist die Gefahr einer zweiten Infektionswelle?

Laumann: Auch das habe ich im Blick. Mein Ministerium hat für eine halbe Milliarde Euro Schutzmasken und Schutzkittel bestellt. Eines steht fest: Ich werde ein gewaltiges Maskendepot anlegen. Ich möchte nicht nochmals erleben, dass wir nicht genügend Schutzmaterial haben, wenn die Infektionszahlen nach oben gehen.

SPIEGEL: Hört sich an, als würden Sie an eine zweite Welle glauben.

Laumann: Niemand kann das vorhersagen. Aber was wäre denn die Alternative? Keine Lockerungen?

SPIEGEL: Diese Meinung gibt es durchaus.

Laumann: Ja, aber viele Menschen fragen uns Politiker auch: Was habt ihr da nur angerichtet? Gerade erst hatte ich einen Reisebürobesitzer am Telefon. Der sagte: Ihr habt mich ruiniert! Lufthansa und TUI rettet ihr, und was ist mit mir?

"Wir haben mit unseren Entscheidungen Menschen geschützt, aber auch Existenzen vernichtet"

Karl-Josef Laumann über den Lockdown in Deutschland

SPIEGEL: Derzeit gibt es viele Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, mit dabei sind Verschwörungstheoretiker, Links- und Rechtsextremisten. Bereitet Ihnen das Sorgen? 

Laumann: Ich nehme das ernst. Natürlich greifen wir noch immer erheblich in die Grundrechte der Menschen ein. Wir Politiker müssen uns dafür auf ewig rechtfertigen. Wir haben mit unseren Entscheidungen Menschen geschützt, aber auch Existenzen vernichtet. Dem müssen wir uns stellen. Und wir müssen das normale Leben, soweit es geht, wiederherstellen. 

SPIEGEL: Das ist auch der Kurs Ihres Chefs. Ministerpräsident Armin Laschet hat für seine frühen Rufe nach Lockerungen allerdings viel Kritik einstecken müssen, auch von der Kanzlerin. Wie nehmen Sie ihn in der Krise wahr?

Laumann: Wir haben lange über Coesfeld gesprochen, er fragte: Wie sind die Infizierten untergebracht? Können sie auch die Quarantäne einhalten? Daran sieht man, dass er vorsichtig ist. Gleichzeitig sagt er: Wir können das Land nicht ewig abstellen. Die Dinge immer wieder aufs Neue abzuwägen, darin zeigt sich Führungsstärke. 

SPIEGEL: Hat Laschet überhaupt noch Lust auf den CDU-Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur?

Laumann: Das glaube ich wohl, und ich werde ihn darin bestärken und ihn wählen.

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