Linkenchefin Katja Kipping »Wir müssen ausstrahlen: Wir sind bereit zu regieren«

Linkenchefin Katja Kipping
Foto: Jens Büttner/ DPASPIEGEL: Frau Kipping, wir haben November. Wenn alles normal gelaufen wäre in diesem Jahr, was würden Sie jetzt tun?
Kipping: Dann würde ich mich jetzt für einige Monate vor allem um die Sozialpolitik und um meinen Wahlkreis Dresden kümmern. Am Sonntag nach dem Parteitag wollte ich nach Hause fahren und mich auf die Anhörung zu den Hartz-IV-Regelsätzen im Bundestag vorbereiten. Nun bin ich weiter Vorsitzende. Aber ich will mich nicht beschweren. Gerade müssen viele Menschen alles Mögliche umplanen, vom Familienurlaub bis zur beruflichen Existenz.
SPIEGEL: Die Wahl Ihrer Nachfolge hätte erst im Juni, dann Ende Oktober stattfinden sollen. Nach zwei abgesagten Parteitagen sind Sie viel länger als geplant im Amt. Wie gehen Sie damit um?
Kipping: Das ist eine ungewöhnliche Situation. Aber offen gesagt: Wir standen in den vergangenen Jahren immer wieder vor komplizierten Aufgaben. Der Vorsitz dieser Partei war noch nie ein Wellnessposten, aber immer eine faszinierende Herausforderung.
SPIEGEL: Jetzt steht die Linke aber vor einem entscheidenden Superwahljahr – ohne neue Spitze.
Kipping: Als Bernd Riexinger und ich 2012 Vorsitzende wurden, war das auch nicht von langer Hand geplant. Damals war sogar bis zum Parteitag völlig unklar, wer die Linke künftig führt. Alle mussten mit dieser Herausforderung umgehen. So aufregend, wie es angefangen hat, so endet es jetzt mit einer ungeplanten Verlängerung.
SPIEGEL: Haben Sie als scheidende Vorsitzende noch die Autorität, um den Umbruch zu organisieren?
Kipping: Ich würde sogar sagen, unsere Autorität ist gerade besonders groß.
SPIEGEL: Wie bitte?
Kipping: Wir lassen Taten sprechen. Einen Führungswechsel in Corona-Zeiten organisiert man nicht mal eben so. Wir haben eine klare Entscheidung für eine Wahlstrategie gefällt. Wir haben uns auf die Kombination aus dezentralem und digitalem Parteitag im Februar verständigt. Eine autoritär geführte Partei wie die CDU hat sich hingegen in dieser Frage ein öffentliches Gemetzel geliefert.

Designierte Parteivorsitzende: Susanne Hennig-Wellsow, Janine Wissler
Foto: Frank May / dpaSPIEGEL: Auch in Ihrer Partei gab es Auseinandersetzungen über die Art des Parteitags.
Kipping: Aber keinen öffentlich ausgetragenen Streit. Wir müssen jetzt alle die Ärmel hochkrempeln und tun, was zu tun ist, bis wir den Staffelstab weitergeben können. Darum haben wir auch den gesamten Parteivorstand gebeten. Es ist enorm wichtig, dass wir bei allen Entscheidungen, die jetzt anstehen, die Partei in ihrer Breite mitnehmen.
SPIEGEL: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass es mit dem Termin im Februar klappt und kein Lockdown in die Quere kommt?
Kipping: Der Infektionsschutz ist bei der dezentralen Variante deutlich größer. Wir sparen viele Kilometer an Anfahrtswegen ein. Die Delegierten bleiben zumeist in ihren Bundesländern und werden von 15 verschiedenen Orten jeweils per Bildschirm miteinander verbunden. Das ist dann ein bisschen wie beim Eurovision Song Contest. In keiner Veranstaltung werden mehr als hundert Menschen zusammenkommen. Die inhaltlichen Debatten führen wir online. Wenn selbst das nicht ausreicht, müssten wir die Wahlen in noch kleineren Räumen durchführen. Ich nenne diesen Plan B das Modell Klassenzimmer. Aber wir hoffen, dass das nicht nötig sein wird.
SPIEGEL: Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow sind die einzigen aussichtsreichen Kandidatinnen für den Parteivorsitz. Wie stimmen Sie sich mit Ihren designierten Nachfolgerinnen ab?
Kipping: Wir dürfen da keine demokratischen Entscheidungen der Delegierten vorwegnehmen. Aber ich freue mich, dass Janine und Susanne solch eine breite Unterstützung in der Partei erfahren. Zu beiden besteht ein guter Draht. Janine ist stellvertretende Parteivorsitzende, Susanne führt den thüringischen Landesverband, also in jenem Bundesland, in dem wir den Ministerpräsidenten stellen. Der Kontakt ist jetzt noch intensiver geworden, und vor zentralen Entscheidungen beraten wir uns mit den beiden.
SPIEGEL: Der Europawahlkampf ging für die Linke gehörig daneben. In bundesweiten Umfragen steht die Partei nicht sonderlich gut da. Was muss diesmal besser laufen?

Im Bundestagswahlkampf 2017 komplettierten die Parteichefs Bernd Riexinger und Katja Kipping ein »Spitzenteam«, in dem die Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht die offiziellen Spitzenkandidaten waren
Foto: Bernd von Jutrczenka/ dpaKipping: Am selben Tag haben wir in Bremen bei der Bürgerschaftswahl deutlich mehr Stimmen bekommen als bei der Europawahl. Warum? Weil im Land unsere Funktion klar war: Wir haben deutlich gemacht, dass wir bereit sind, für die Überwindung der sozialen Spaltung in die Landesregierung einzutreten. Die Leute wussten, warum sie uns wählen sollen.
SPIEGEL: Es gibt immer noch viele Genossen, die mit einem Regierungskurs nicht einverstanden sind.
Kipping: Gerade in Corona-Zeiten haben wir eine große Verantwortung. Ja, wir müssen ausstrahlen: Wir sind bereit zu regieren – nicht als Selbstzweck, sondern weil wir so noch besser als Sozialgarantie wirken können. Weil wir nur mit sozialen Mehrheiten links der Union verhindern, dass die Kosten der Krise auf den Ärmsten und den Beschäftigten abgeladen werden. Wir stehen dafür, dass Konzerne und Superreiche die Kosten tragen.
SPIEGEL: Ihre Bundestagsfraktion hat nun gegen das Infektionsschutzgesetz gestimmt, das von Linken geführte Thüringen im Bundesrat dafür. Verträgt die Linke so viel Widerspruch zwischen Opposition und Regierung?
Kipping: Da ging es nicht so sehr um Regierung oder Opposition, sondern um die besondere Lage der Länder. Die müssen Schutzmaßnahmen umsetzen, die von Gerichten kassiert werden, weil es gerade keine Gesetzesgrundlage gibt. Deshalb haben sie sich für Rechtssicherheit entschieden, und wir haben uns im Bundestag aus inhaltlichen Gründen gegen ein schlechtes Gesetz entschieden.
SPIEGEL: Während einzelne Genossen mit Corona-Leugnern sympathisieren, haben Sie persönlich schon früh auf scharfe Schutzmaßnahmen gepocht. Haben Sie sich Kanzlerin Angela Merkel je so nahe gefühlt?
Kipping: Ich kritisiere die Corona-Politik der Bundesregierung. Nicht, weil sie die Gefahren von Corona ernst nimmt. Aber die Corona-Politik der Regierung hat eine enorme Schlagseite. Den Familien werden bis ins Wohnzimmer Vorschriften gemacht, an die Wirtschaft traut man sich kaum ran. Die Beschlussvorlage der Runde im Kanzleramt letzte Woche umfasste beispielsweise neun Seiten. Darin ging es vor allem um Beschränkungen fürs Privatleben. Kein Wort zu stärkeren Kontrollen für Infektionsschutz am Arbeitsplatz. Kein Wort dazu, dass Massenunterkünfte durch dezentrale ersetzt werden müssen. Dabei waren Frachtzentren und Massenunterkünfte wiederholt Hotspots. Zudem hat die Regierung den Sommer verpennt. Sie hätte etwa frühzeitig die Produktion von Luftfiltern für Gastronomie und Schulen hochfahren müssen. Da hat die Regierung versagt: neun Milliarden für Lufthansa, aber null Euro für mobile Luftfilter an Schulen.
SPIEGEL: Noch ist offen, wer die Linke in den Bundestagswahlkampf führt. Führen Sie schon Gespräche?
Kipping: Das ist eine Entscheidung des neuen Parteivorstands. Es wäre falsch, wenn wir das jetzt an uns ziehen. Ich werbe dafür, dass wir einen Parteitag über die Spitzenkandidaten entscheiden lassen. Wer die Partei in den Bundestagswahlkampf führen will, sollte sich einem Votum der Delegierten stellen.
SPIEGEL: Mit offenen Kampfkandidaturen?
Kipping: Das muss ja kein Hauen und Stechen bedeuten. Ein demokratisches Verfahren schließt eine harmonische und überzeugende Lösung nicht aus – das sehen wir ja gerade bei den Kandidaturen zum Parteivorsitz.
SPIEGEL: Haben Sie selbst noch Interesse an der Spitzenkandidatur?
Kipping: Das sind gerade keine Zeiten, um etwas auszuschließen.