
Kaum Ostdeutsche im Kabinett Die neue Regierung hat ein Repräsentanzproblem


Vandalisiertes Wahlplakat von Olaf Scholz (September 2021)
Foto: Emmanuele Contini / IMAGODieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Bei der Zusammensetzung von Bundesregierungen gibt es ein bewährtes Spielchen bei der SPD: Wie schafft man es, möglichst viele Quoten zu erfüllen, ohne dabei auf allzu viele westdeutsche Männer zu verzichten?
Auf der Gewinnerseite und damit im Kabinett stehen am Ende meistens Personen, die gleich mehrere Kriterien erfüllen. Auch in der zweiten Reihe, bei den Staatssekretärinnen und Staatssekretären, findet dieses Spiel Anwendung. Exemplarisch steht dafür die frisch gekürte Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, Reem Alabali-Radovan, die Kanzler Olaf Scholz kurz vor seinem Amtsantritt aus dem Hut zauberte. Alabali-Radovan erfüllt so ziemlich alle Quoten, die derzeit gefragt sind. Sie hatte irakische Eltern, wurde in Moskau geboren. Mit 31 Jahren ist sie eine der Jüngsten in der Regierung, noch dazu wuchs sie in Mecklenburg-Vorpommern auf.
Alabali-Radovan ist Scholz' Super-Joker – und gleicht alles aus, woran es der Regierung mangelt: an den Jüngeren, den Ostdeutschen, den Menschen mit Migrationsgeschichte. Jeder, der dem neuen Kanzler fehlende Diversität in seinem Kabinett vorwirft, bekommt künftig diese Personalie entgegengehalten. Auch wenn die Besetzung Alabali-Radovans ein positives Signal sein mag, durchgehen lassen sollte man Scholz diesen Joker nicht.

Politikwissenschaftlerin Reem Alabali-Radovan: Scholz' Super-Joker
Foto: Zentralbild / dpaDie neue Regierung hat ein Repräsentanzproblem. Nur zwei Ministerinnen, die in Ostdeutschland geboren wurden, schafften es ins Kabinett. Die Sachsen-Anhalterin Steffi Lemke (Grüne) und die Brandenburgerin Klara Geywitz (SPD). Halb dazu zählen könnte man noch Wessi Annalena Baerbock, die einen Großteil ihres Lebens in Ostdeutschland gelebt hat.
In der Summe ist das – gemessen an der Bevölkerungszahl – zu wenig. Bei 20 Prozent Ostdeutschen hätten es eigentlich drei bis vier Kabinettsposten sein müssen.
Die Ost-SPD hat sich mächtig unterbuttern lassen
Doch es geht nicht nur um die schiere Zahl. Ein besonders bitteres Signal geht von der Personalie Carsten Schneider aus: Der langjährige Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion sollte eigentlich Minister werden, doch das klappte nicht. Er ist zwar Ostdeutscher, aber keine Frau, eine Migrationsgeschichte kann er auch nicht vorweisen. Hätte Scholz ihn zum Minister ernannt, hätte ein anderer Westdeutscher rausfallen müssen.
Klar kann man argumentieren, mit Karl Lauterbach habe ein Fachmann den Proporz geschlagen. Ja, im Zweifel gibt es einen virologischen Fachmann aus dem Osten eben nicht. Aber warum hätte für Schneider oder Lauterbach nicht der Niedersachse und Arbeitsminister Hubertus Heil seinen Posten räumen können?
Dazu konnte sich Scholz offenkundig nicht durchringen – womöglich, weil es auch erklärungsbedürftig gewesen wäre, Heil abzusägen, hatte er doch nicht viel falsch gemacht als Minister. Womöglich hätten auch seine über Jahre in der SPD sonst so dominanten Genossen aus Niedersachsen interveniert. Die Ost-SPD hat sich jedenfalls mächtig unterbuttern lassen.
Das Ergebnis ist fatal. Die Demokratie ist in Ostdeutschland mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung defekt, vielleicht sogar defekter als noch vor zehn Jahren. Wie schon bei der Flüchtlingsaufnahme vor fünf Jahren macht sich durch die Pandemie eine große Vertrauenskrise bemerkbar. Man kann als Westdeutsche den Sachsen einfach Dummheit oder Larmoyanz vorwerfen, weil sich zu viele nicht impfen lassen oder AfD wählen. Allein: Helfen wird das gar nichts.
Es geht hier nicht um »Identitätspolitik«, auch nicht um bloße Quoten. Die ostdeutschen Bundesländer bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Man kann sie auch nicht mit Bayern vergleichen, wo Ministerpräsident Markus Söder ebenfalls klagt, sein Land werde in der Regierung nicht repräsentiert. In den ostdeutschen Bundesländern muss die neue Regierung mehr als anderswo dafür Sorge tragen, eine Gesellschaft zusammenzuhalten – und sollte, wenn irgendwo etwas aufzubrechen droht, nichts unversucht lassen, das zu verhindern.
Trotz 16 Jahren Kanzlerschaft einer Ostdeutschen (die 15 Jahre lang davon ihre Herkunft bestens kaschierte) schafft es die Bundespolitik nicht, größeren Teilen der ostdeutschen Bevölkerung zu vermitteln, dass sie auch für sie regiert.
Die Ostdeutschen sind in der Demokratie beim Protestieren angekommen. Nicht nur mit Pegida gingen viele auf die Straße. Auch als FDP-Mann Thomas Kemmerich 2020 mit AfD-Stimmen zum Thüringer Ministerpräsident gewählt wurde, waren viele Bürger empört und protestierten auf den Marktplätzen. Es gibt kaum einen Auftritt des AfD-Politikers Björn Höcke in Suhl oder sonst wo ohne Gegenproteste.
Doch das reicht nicht: Demokratie lebt davon, mitzumachen und nicht immer nur dagegen zu sein. Die Landesverbände der Parteien im Osten sind bis heute immer noch viel zu klein, sie brauchen mehr Mitglieder. Doch dafür muss man sie auch ausreichend mitmachen lassen.
Ein ostdeutscher Minister mehr im Kabinett Scholz hätte womöglich nicht die Impfquote im Osten rekordartig nach oben getrieben und die AfD wäre auch nicht umgehend aus den Landesparlamenten von Erfurt und Magdeburg verschwunden. Aber vielleicht hätte er oder sie dem diffusen Gefühl entgegengewirkt, dass diese Demokratie mehr zur einen Hälfte Deutschlands gehört als zur anderen. Und im Zweifel der Ostdeutsche sowieso den Kürzeren zieht. Carsten Schneider etwa wurde nun von Scholz mit dem Posten des Ostbeauftragten abgespeist, was im Grunde eine Demütigung ist (Für den Ossi haben wir doch ein Amt!).
Von diesem Neuanfang der Regierung hätte ein Impuls für mehr Demokratie im wiedervereinigten Deutschland ausgehen können. Diese Chance wurde verpasst.