Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Volk und Wahrheit

Alle klagen über den Mangel an Demokratie. Aber Wahlen sind nicht die Lösung. Es ist paradox: Wer Demokratie will, darf die Menschen nicht direkt befragen.

Die Demokratie ist in der Krise. Die Menschen sind unzufrieden. Das Murren wird lauter und die AfD wächst. Plötzlich kann man sich vorstellen, dass Frauke Petry mit ihrem Tiefkühllächeln eines Tages in der Bundesregierung sitzt. Zwischen Wahlvolk und Politik macht sich eine große Entfremdung breit. Es herrscht ein Notstand der politischen Legitimation. Wie behebt man den? Durch Partizipation? Sollen die Menschen an den politischen Entscheidungen mehr beteiligt werden? Bloß nicht.

"Wenn man Europa kaputtmachen will, dann braucht man nur mehr Referenden zu veranstalten." Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg, sagte das nach dem Nein der Niederländer zum EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Asselborn findet, dass Referenden in einer parlamentarischen Demokratie kein geeignetes Instrument sind, um schwierige Fragen zu beantworten.

Macht ihn das verdächtig? Glaubt dieser EU-Politiker nicht an die Demokratie? "Wegen mir hätte er gerne noch ein bisschen klarer werden und dann sagen können: In der konzerngesteuerten Europäischen Union ist kein Platz für Demokratie!" hat die Linke Sarah Wagenknecht daraufhin gesagt - und einen europäischen Neustart gefordert: "Mit mehr Demokratie statt immer weiterer Vorfahrt für Konzerne und mit einem Ausbau sozialer Rechte statt Lohndumping und Sozialabbau!"

Mehr Wahlen sorgen nicht für mehr Gerechtigkeit

Man kann Wagenknecht hier bei ihren Experimenten mit dem Populismus zusehen. Aber Vorsicht: Wer mehr Partizipation in die Demokratie rührt, dem fliegen die Reagenzgläser um die Ohren. Aus gutem Grund gibt es Parlamente. Sie schützen die Demokratie vor dem Volk und das Volk vor sich selbst. Denn beim Volk, das ist eine paradoxe Wahrheit, ist die Demokratie nicht gut aufgehoben. Volkes Stimme und Fortschritt - das geht nicht gut zusammen. Die Schweizer wollten keine Minarette, die Hamburger keine Gemeinschaftsschulen und die Niederländer jetzt keinen Vertrag mit der Ukraine. Vernünftig war das alles nicht - und fortschrittlich erst recht nicht.

Vor allem aber: Wahlen und Abstimmungen führen nicht zu mehr Gerechtigkeit. Im Gegenteil. Wahlforscher wissen: die unteren Schichten gehen weniger wählen, die Besserverdienenden engagieren sich mehr.

Entsprechend sind die Ergebnisse solcher Abstimmungen. Es beteiligt sich eben nicht "das Volk" - sondern nur ein bestimmter Ausschnitt, vor allem die Gebildeten und die Männer. "Sowohl die Beteiligungslogik als auch die empirische Forschung deuten auf eine Privilegierung des Partikularwohls gegenüber dem Gemeinwohl hin", hat der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel geschrieben.

Das ist auch eine Erklärung dafür, wie es sein kann, dass seit zwanzig Jahren in den westlichen Staaten die soziale Ungleichheit trotz freier Wahlen immer weiter zunimmt. Offenbar ist die Demokratie kein geeignetes Instrument, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Welt hat ihren Siegeszug gesehen. Aber das Wort Demokratie bedeutet nichts mehr. Alle sind jetzt Demokraten.

Niemand steht auf und sagt: Ich bin Faschist. Offensichtlich stimmt da was nicht. Sind Recep Tayyip Erdogan, Angela Merkel und Wladimir Putin gleichermaßen Demokraten? Ist Donald Trump ein Demokrat, weil er sich zur Wahl stellen will? Wahlen sind eben nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung der Demokratie.

Und manchmal sind die Leute, die nach mehr Demokratie rufen, dieselben, die sie in Wahrheit zerstören wollen.

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Foto: SPIEGEL ONLINE
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