Kemalisten in Deutschland "Atatürk lebt"
Berlin Es sollte ein Meer von rotweißen Fahnen werden. Ganz so wie in Istanbul und Izmir vor wenigen Wochen. Ein solidarischer Protest gegen die Islamisierung der Türkei. Ein Zeichen für die laizistische Republik von Staatsgründer Atatürk.
"Ich grüße euch, aufgestandenes Volk", ruft Kemal Coskun, Vorsitzender des Verbands der Vereine zur Förderung der Ideen Atatürks. Er wirkt zufrieden. Aufgestanden sind etwa 3000 Menschen. Unter dem Motto "Schütze deine Republik" stehen sie nun im Regen vor der Siegessäule und hören sich eine kemalistische Predigt nach der anderen an.
"Demjenigen, der unsere Leitwerte anfasst, brechen wir die Hände", sagt Coskun mit pathetischer Betonung. Dann zitiert er Mitglieder der islamischen Regierungspartei AKP und lässt den Zuhörern genug Zeit, ihre Buhrufe zu platzieren.
Hunderte Kinder in roten T-Shirts mit Sichelmond und Stern sind da. Auffällig viele Frauen und junge Männer zeigen sich politisch motiviert. Fast alle haben sich in den Nationalfarben zurecht gemacht. Kopftuch trägt hier keine, eher laszive Mode. Gemeinsam rufen sie "USA, EU volle Unabhängigkeit der Türkei", was sich auf Türkisch melodisch reimt. Auf Transparenten fordern sie: "Die Türkei muss aus Ankara regiert werden, nicht von Brüssel oder Washington aus."
Redner: Erdogan führt Dschihad gegen Türkei
"Deutschland, in dem Goethe, Schiller und andere aufgeklärte Denker groß geworden sind, ist der richtige Ort, um unsere Standpunkte zu äußern", sagt Politikprofessor Alparslan Kilic von der Ankara-Universität. "Wir sind hier, um zu zeigen, dass Atatürk weiterlebt."
Der Hochschullehrer, Hauptredner der Veranstaltung, spricht schließlich von "Angriffen auf die Republik". Und davon, dass die Angreifer "etwas anderes wollen, als sie öffentlich behaupten". Er zitiert Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit einem Satz aus dessen radikaler Vergangenheit: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette." Wütend wirft er Erdogan und seinem Gefolge vor, den Islam für eine "intelligenzfreie Religion" zu halten und zu missbrauchen. Kilic spricht von einem Dschihad gegen die Türkische Republik.
Der Staatsgründer, dem alle Anwesenden anhängen, wird immer wieder gelobt. "Der Befreier Atatürk wollte einen sozialen Staat", so der Politikprofessor, "aber einen, der nicht auf Ausbeute beruht, wie vielerorts in der westlichen Welt". Wir haben das Beispiel Atatürk vor Augen, heißt es bei einem anderen Redner. "Wir würden die Republik auch hundert Mal wieder gründen, wenn es sein muss."
"Wie das Orange in der Ukraine"
Es fallen viele patriotische Sätze an diesem Nachmittag auf der Straße des 17. Juni. In den politischen Reden werden alle wichtigen internationalen Konflikte der Türkei angesprochen, wie etwa um Irak, Zypern und Armenien. An besonders vaterlandsverliebten Stellen schwenkt das Publikum die Fahnen oder brüllt: "Die Türkei ist die Größte".
Der Vorsitzende des Vereins zur Förderung des Gedankenguts Atatürks aus Berlin, Olcay Basegmez, möchte verhindern, dass der nationale Pathos der Veranstaltung falsch verstanden wird. "Rotweiß ist unser Symbol", sagt er zu SPIEGEL ONLINE, "etwa wie Orange in der Ukraine". Er sieht die kemalistischen Prinzipien gefährdet: Die Einheit der Türkei und die laizistische Republik, also die tragenden Säulen des Kemalismus, würden von Staatsfeinden unterwandert. "Und mit den Farben der Republik protestieren wir gegen diese Staatsfeinde", so Besegmez.
Die Veranstaltung mit dem Namen "Berliner Kundgebung" sei keine Demonstration. Es gehe nicht darum, gegen die islamische Regierungspartei aufzuhetzen. Was man kundgeben wolle? Dass jeder Türke, dem die Republik wichtig sei, seine Stimme bei den vorgezogenen Wahlen nutzen muss, sagt der Vereinsvorsitzende.
"Die Erdogans kommen und gehen"
Zwar haben die Türken in Deutschland kein Auslandswahlrecht für ihre Heimat. Aber den Zeitpunkt für die Parlamentswahlen am 22. Juli findet Basegmez glücklich: Da sind viele Türken in den Sommerferien und können mitwählen. Und damit "ihre Republik schützen".
Weniger dramatisch sieht das alles die 81-jährige Mihreban Yeniceli. Als sie sechs Jahre alt war, sei sie dem Staatsgründer Atatürk begegnet, vor seinem Anwesen in Istanbul. Der "Vater der Türken" habe ihr persönlich über den Kopf gestrichen. Von da an stand für die ehemaligen Lehrerin fest: "Ich werde immer für ihn da sein." Ihre Augen leuchten. Sie hat extra den Besuch bei ihrer Tochter verlängert, um an der Kundgebung teilzunehmen.
"Solange es uns gibt", sagt die Kemalistin mit den hellen Haaren und dem Türkeicappie, "ist die Türkei nicht gefährdet". Die Istanbulerin glaubt nicht an die islamistischen Horrorszenarien, die von vielen Kemalisten ausgemalt werden. "Die Türkei hat schon viele Erdogans erlebt", winkt Yeniceli ab. "Die kommen und gehen."