Kinderwahlrecht Parteigänger in Pampers
Klaus Haupt hat einen kühnen Traum: 14 Millionen Menschen möchte der FDP-Bundestagsabgeordnete endlich zu ihrem guten Recht verhelfen: Sie sollen seiner Partei bei Wahlen künftig ihre Stimme geben dürfen.
Als potenzielle Wählergruppe hat der Freidemokrat dabei nicht Spätaussiedler oder andere Immigranten im Blick, die er ins Land holen und der liberalen Wählerschaft zuführen will. Haupt fordert das Wahlrecht für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren - und zwar von Geburt an. Die Kids, so Haupt, gehörten schließlich auch zum Staatsvolk - nicht anders als Rentner oder Bürger in den besten Jahren.
Nach dem Scheitern des "Projekts 18" nun also das Projekt "Unter 18"? Was wie die skurrile Grille einer Partei mit Wählersorgen klingt, zieht nun Kreise bis in das Allerheiligste des deutschen Parlaments. Für einen interfraktionellen Antrag haben Haupt und sein Parteifreund, Bundestagsvizepräsident Hermann Otto Solms, die Unterstützung von mehreren Dutzend Abgeordnetenkollegen über die Parteigrenzen hinweg eingeworben. Am heutigen Donnerstag debattiert das Bundestagsplenum unter der Drucksachen-Nummer 15/1544 den Antrag "Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an".
Politik nur noch für Alte?
Was Haupt und seine Mitstreiter umtreibt, sind die potenziell dramatischen Auswirkungen der demographischen Entwicklung: In einer immer stärker alternden Gesellschaft müssen sich die Parteien zwangsläufig immer mehr and den Interessen der Älteren ausrichten, wenn sie Wahlen gewinnen wollen. Der Nachwuchs gerät politisch immer weiter aus dem Blick, und mit ihm die Frage der Zukunftsfähigkeit des Landes. Bekommen Kinder ein Stimmrecht, so ihre Erwartung, müssen die Parteien die Wähler in Pampers mit in ihr Kalkül einbeziehen.
Der Antrag hat es in sich: Der im Grundgesetz festgelegte "Ausschluss der Kinder und Jugendlichen vom Wahlrecht" vereitele eine "angemessene Berücksichtigung der jungen Generation im politischen Willensbildungsprozess unserer Gesellschaft", monieren die Unterzeichner, deren Spektrum von Rechtsaußen Martin Homann über die Grüne Antje Vollmer bis zum sozialdemokratischen Bundestagspräsident Wolfgang Thierse reicht.
Diese Einschränkung passe weder in die Gesamtsystematik unserer demokratischen Ordnung, noch überzeuge sie inhaltlich: "Das Wahlrecht ist ein in einer Demokratie unverzichtbares Grundrecht. Wer Kindern und Jugendlichen das Wahlrecht grundsätzlich weiter vorenthält, stellt einerseits die prinzipielle Gleichheit der Staatsbürger in Frage und leistet andererseits einer Politik Vorschub, die zu einer Verlagerung von Lasten auf die nächste Generation tendiert."
Reformidee in der Todeszelle
Da Krabbelkinder kaum ein Kreuz in der Kabine machen können, soll ihr Wahlrecht bis zur Volljährigkeit treuhänderisch von den Eltern wahrgenommen werden. Die Grundidee ist keineswegs neu; ihre Grundzüge gehen zurück auf den Widerständler Carl Goerdeler, der sie 1944 in der Nazi-Todeszelle in seinem Manifest für die politische Zukunft Deutschlands skizzierte. Doch mit dem Beginn der Demographie-Debatte in Deutschland hat der alte Ansatz neuen Schwung bekommen, und die Parlamentarier können auf eine ganze Phalanx fachkundiger Prominenter verweisen, deren Namen ihrer Sache zusätzliches Gewicht verleihen.
So unterstützt Roman Herzog, Ex-Bundespräsident und davor Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, die Idee des Kinder- oder Familienwahlrechts ebenso wie sein früherer Richterkollege Paul Kirchhoff. Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann gehört zu den Befürworten und der heutige Präsident der Leibniz-Gemeinschaft und frühere Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel.
Dennoch haben die Initiatoren bisher vor allem eines zu spüren bekommen. Ablehnung. "Populistisch motivierter Unsinn" schilt etwa Norbert Röttgen, rechtspolitischer Sprecher der Unions-Fraktion, die Idee des Kinderwahlrechts. Nicht wenige wittern in der vermeintlich demokratischen Absicht einen Angriff auf die Demokratie.
Was heißt "one man, one vote"?
Ein Stellvertreterwahlrecht, fürchten die Kritiker untergrabe das Prinzip der Stimmengleichheit, da einige Wähler - die Eltern - mehr Stimmen hätten als andere. Es drohe eine Verletzung der Höchstpersönlichkeit der Wahl, Manipulationen werde Tür und Tor geöffnet. Auch sei das Ganze unpraktikabel, weil es Streit in die Familien trage: Was, wenn die Eltern sich nicht einigen können? Was, wenn die heranwachsenden Kinder ein bestimmtes Stimmverhalten fordern? Wie behandelt man Patchwork-Familien? Dass Eltern die Stimmen wirklich im Interesse ihrer Kinder abgeben, sei ohnehin nicht sicherzustellen.
Derartige Einwände sehen die Befürworter des Wahlrechts ab Geburt gelassen. Eine Gleichheit der Stimmen werde durch das derzeitige Wahlrecht verhindert, argumentieren sie: Ein kinderloses Ehepaar habe schließlich an der Wahlurne genau doppelt so viel politisches Gewicht wie eine Alleinerziehenden-Familie mit drei Kindern - in der aber zweimal so viele Staatsbürger leben.
Die Höchstpersönlichkeit der Wahl ist kaum irgendwo unumstößliches Prinzip: Im Mutterland der Demokratie, Großbritannien, kann der Wahlberechtigte ohne weiteres jemand anders für sich an die Urne schicken. Und auch in Deutschland gilt das hehre Prinzip nur eingeschränkt: Bei der Briefwahl weiß auch niemand, ob nicht der eine oder andere Junior schon Mal probehalber für Papa das Kreuzchen machen durfte.
Rot-Grün setzt auf unverbindliche Mitmach-Angebote
Die ganzen praktischen Probleme seien "leicht zu lösen", urteilte Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhoff schon vor Jahren - schließlich sei die Regelung der rechtlichen Vertretung von Kindern aus anderen Rechtsgebieten längst bekannt und im Griff. Um zum Beispiel Streitigkeiten unter Erziehungsberechtigten aus dem Weg zu gehen, könnte jeder Erziehungsberechtigte eine halbe Kinder-Stimme abgeben.
Die Bundesregierung will von dem ganzen vorerst möglichst nichts wissen. Dort setzt man weiter auf unverbindliche Mitmach-Angebote wie "Jugendparlamente", maximal die Herabsetzung des Wahlalters, und auch das nur bei Kommunalwahlen. Familienministerin Renate Schmidt ist zwar privat eine Befürworterin des Familienwahlrechts. Doch als Ministerin muss sie - noch? - andere Töne anschlagen: Eine solche Reform, ließ sie zuletzt erklären, sei "nicht Anliegen und Vorhaben des Bundeskabinetts".
Da ist die katholische Kirche ausnahmsweise mal weit progressiver als Grüne und Soziademokraten: In einigen Bistümern, darunter Fulda, ist das Familienwahlrecht bei Gemeinderatswahlen schon seit fast zehn Jahren im Praxistest - mit Erfolg.