Kindstötung in Brandenburg Die Unkultur des Wegschauens
Berlin - Jörg Schönbohm und Christian Pfeiffer sind beide keine Leisetreter und für ihre zugespitzten Äußerungen bekannt. Jetzt haben sie, in kurzem Abstand, einmal mehr zugeschlagen: Zuerst stellte Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) in einem Interview einen Zusammenhang zwischen der neunfachen Kindstötung einer Mutter in Brieskow-Finkenheerd und den mutmaßlichen Werteverlusten der Ostdeutschen in der DDR-Zeit her. Viele Ostdeutsche seien heute teilnahmslos, klagte er. Die von der SED erzwungene Proletarisierung sei Schuld an Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft.
Schönbohm hatte eine Diskussion anstoßen wollen - das ist ihm gelungen. Der Sturm der Empörung über den Ex-General hatte gerade seinen Höhepunkt erreicht, da sprang ihm der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer bei: Er verfüge über Zahlen, denen zufolge Kindstötungen durch Mütter im Osten Deutschlands etwa vier Mal häufiger seien als im Westen.
Seitdem führt die Republik eine Ost-West-Debatte besonders brisanter Art. Sie splittert sich in zahlreiche Einzelfragen auf: Wie zuverlässig sind Pfeiffers Zahlen? Wie gewaltbereit ist der Osten? Ist die DDR-Erziehung Schuld oder der Umbruch nach 1989? Und sieht es im Westen wirklich besser aus?
"Eine Kultur des Wegschauens gibt es eher im Westen", behauptet zum Beispiel der Hamburger Kriminologe Fritz Sack, der für sich in Anspruch nimmt, diesen Begriff selbst mitgeprägt zu haben - und zwar nachdem 1997 in der Hamburger S-Bahn am helllichten Tag eine 17-Jährige vergewaltigt worden war.
Krasse Fälle auch im Westen
Tatsächlich gibt es auch in den alten Ländern etliche Beispiele für ein krasses Versagen der Gesellschaft: In Hildesheim wurde im vorvergangenen Jahr ein 17-jähriger Berufsschüler über Monate von seinen Mitschülern gemobbt und massiv misshandelt. Die Täter filmten die Folter-Szenen teilweise und wollten sie ins Internet stellen - keiner der Lehrer hatte angeblich etwas bemerkt. Im holsteinischen Heide wurde im Jahr 1997 eine 14-Jährige mitten am Tag in der Fußgängerzone vergewaltigt. Kein Passant kam ihr zu Hilfe, was damals eine bundesweite Debatte über Zivilcourage ausgelöst hat. "Im Westen gilt doch erst recht: Jeder ist sich selbst der Nächste", sagt Sack.
Die Schönbohm-These vom DDR-Erbe hält Sack deshalb für "unhaltbar". Und auch an Pfeiffers Statistik lässt der emeritierte Professor kein gutes Haar: "Statistisch und kriminologisch unsinnig" sei es, "auf dieser Basis eine Interpretation über das Zusammenspiel von historischen und persönlichen Prozessen zu wagen" - auch, wenn Sack einen Zusammenhang zur Umbruchsituation in Ostdeutschland gar nicht ausschließen will. Pfeiffer ruiniere die Reputation der Wissenschaft mit seinen "unvertretbaren Instrumentalisierungen".
Sack ist nicht der einzige Pfeiffer-Kritiker: "Die Menschen im Osten schauen viel weniger weg", meint auch Psychologe Günter Esser von der Uni Potsdam. "Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist stärker ausgeprägt." Die Zahl von Kindstötungen hält Esser für keinen sinnvollen Indikator, um der Befindlichkeit einer Gesellschaft nachzuspüren. Aus dem Brandenburger Drama allgemeingültige Schlussfolgerungen zu ziehen sei so seriös, wie aus dem Kannibalenmord in Hessen im vergangenen Jahr Aussagen über Westdeutschland abzuleiten.
Pfeiffer äußert sich erneut
Derselben Ansicht ist der Tübinger Kriminologe Hans-Jürgen Kerner: "Ich halte es für mindestens wagemutig, einen bizarren Einzelfall zu nehmen, um Gesellschaftsanalyse zu betreiben." Zwar will auch der Direktor des Kriminologischen Instituts nicht ausschließen, dass "75 Jahre autoritärer Gesellschaftsstrukturen in Ostdeutschland" Folgen gezeigt haben und verweist auf Ost-West-Vergleichsstudien, denen zufolge junge Ostdeutsche öfter kriminell seien, höhere Furchtraten aufweisen würden und eher rechtsradikal empfänden. Aber fundamentale Ost-West-Unterschiede seien ihm nicht bekannt, schon gar nicht unter Erwachsenen. Pfeiffer habe eine "Hosentaschentheorie" entwickelt, lautet Kerners Fazit.
Der so Angegriffene fühlt sich missverstanden. Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE erneuerte Pfeiffer heute sein Plädoyer für eine offene Diskussionskultur: "Man muss bestimmte Fragen stellen dürfen", so der Kriminologe. Zwar gäbe es keinen Beleg für eine generell höhere Gewaltkriminalitätsrate im Osten, allerdings seien die Unterschiede zumindest bei den Kindstötungen und den rechtsradikalen Gewalttaten signifikant. "Da aber beispielsweise ein Großteil der Gewaltkriminalität unter Jugendlichen in westdeutschen Städten zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen stattfindet", sei diese Statistik überhaupt nicht mit den ostdeutschen Zahlen zu vergleichen, so Pfeiffer, "schließlich gibt es dort wesentlich weniger Ausländer." Die These, der Osten sei generell gewalttätiger als der Westen, "ist schlicht falsch", so Pfeiffer.
Tatsächlich aber sei die Zahl der Kindstötungen im Osten in den Jahren nach der Wende sogar noch höher gewesen als aktuell, so dass man sich fragen müsse, ob es schon vorher in dieser Größenordnung der Fall gewesen sei, "dass Frauen aus Verzweiflung ihre Kinder getötet haben" - oder ob es sich um ein Nachwende-Phänomen handle. Es gäbe leider keine DDR-Statistik zu diesem Thema, allerdings spricht seiner Ansicht nach "mehr für die zweite Theorie".
Ein Konsens deutet sich an
Deshalb müsse untersucht werden, warum das Risiko für Kinder, getötet zu werden, im Osten höher ist als im Westen. "Es ist zu vermuten, dass da mehr Familiendramen dahinterstecken", so Pfeiffer, "aber das hat bisher keiner analysiert." Es sei sinnvoll, jungen Frauen im Osten mehr Angebote zu machen, dass sie ihr Kind angstfrei auf die Welt bringen können. Zwar seien Ost-West-Vergleiche immer heikel, aber man müsse "vorurteilsfrei forschen können". Der Kriminologe beklagt, dass die Politik den heiklen Konflikt am liebsten zu vermeiden suche: "Das will offenbar niemand so genau wissen."
Inzwischen scheint die hitzige Debatte einer Versachlichung entgegen zu steuern. Die Protagonisten sind sich grundsätzlich einig, dass exzessive Gewalt besonders häufig in sozial verwahrlosten Regionen stattfindet, verübt von emotional verrohten Tätern. Diese Gebiete gibt es im Osten wie im Westen - genau wie erschreckende Fälle von Wegschauen. Auch darüber, dass es nicht genügend aussagekräftige Daten gibt, besteht Konsens. Und die Folgen der DDR-Erziehung möchten mehr Forscher als nur Pfeiffer untersuchen. Ein Teil der heftigen Kritik an Pfeiffer aus dem Kollegenkreis ist dem Umstand geschuldet, dass der ehemalige niedersächsische Justizminister sich regelmäßig und gerne ins Rampenlicht stellt. "Er lässt keine Gelegenheit aus, Interpretation zu präsentieren, die sich politisch verwerten lassen", ätzt der Hamburger Professor Sack. Andere äußern sich ähnlich deutlich.
Am Ende folgt dem Aufschrei über den Schönbohm-Pfeifferschen Tabubruch nun also eine vorsichtige Ernüchterung. Mag sein, dass Schönbohms Brandenburger CDU nun einige Stimmen verloren gehen - viele Ostdeutsche fühlen sich kollektiv beleidigt und selbst Parteifreunde hatten ihn hart kritisiert. Zumindest aber ist der Boden für eine sachliche Auseinandersetzung nun besser bereitet, als er es vor dem Eklat war. Die Aufregung muss also nicht umsonst gewesen sein.