Klage gegen Lissabon-Vertrag Verfassungsrichter entscheiden über Europas Zukunft

Das Urteil könnte das Schicksal der EU auf viele Jahre prägen: Das Verfassungsgericht entscheidet an diesem Dienstag darüber, ob der Reformvertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz vereinbar ist. SPIEGEL ONLINE beschreibt die möglichen Szenarien - und ihre Folgen.

Hamburg - Bislang hielt sich das Interesse an der Karlsruher Entscheidung zur Europapolitik in Grenzen - weil alle auf Irland schielten. Als die Iren den Reformvertrag im vergangenen Jahr ablehnten, brachten sie den europäischen Einigungsprozess erheblich ins Stocken. Im Herbst wird die Abstimmung wiederholt. Allerdings nur, weil das Land ein Zusatzprotokoll durchsetzte, das seine Souveränität schützen soll.

In der Debatte über den irischen Sonderweg ging fast unter, dass auch die Ratifizierungsurkunde aus Berlin noch fehlt. Ausgerechnet von Deutschland, das sich in der EU gern als Musterschüler präsentiert.

Verfassungsrichter in Karlsruhe: Furcht vor Souveränitätsverlust

Verfassungsrichter in Karlsruhe: Furcht vor Souveränitätsverlust

Foto: DDP

Dabei könnte die deutsche Haltung im schlimmsten Fall eine verheerende Kettenreaktion auslösen. Fällt Lissabon in Deutschland durch, wird ein Ja der Iren sehr viel schwieriger zu erreichen sein. Die Staatschefs von Polen und Tschechien, deren Entscheidung ebenfalls noch aussteht, werden sich wiederum nach Irland richten.

Eigentlich hatte der Bundestag den Mammutvertrag im vergangenen Jahr mit einer Mehrheit von 90 Prozent durchgewunken. Doch mehrere Kläger - darunter der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler - hatten beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gegen das Zustimmungsgesetz Beschwerde eingelegt.

Die erforderliche Unterschrift von Bundespräsident Horst Köhler liegt seitdem auf Eis. Am Dienstag entscheiden die Karlsruher Richter nun darüber, ob Deutschland mit seiner Zustimmung zum EU-Vertrag gegen das Grundgesetz verstoßen hat. Sogar Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wird zur Urteilsverkündung nach Karlsruhe reisen.

Mehr Macht für Brüssel

Der Lissabon-Vertrag ist die abgespeckte Version der ursprünglich geplanten EU-Verfassung. Wie sein Vorgänger soll das Regelwerk helfen, die Union schlanker, transparenter und entscheidungsfreudiger zu machen. Das bedeutet aber zwangsläufig weniger Einfluss für die einzelnen Mitgliedstaaten - einer der Gründe, warum sich Frankreich und die Niederlande bei ihren Volksabstimmungen 2005 gegen den Vertrag sperrten. Doch die Staats- und Regierungschefs der EU gaben nicht auf: Während ihrer Gipfelkonferenz in Lissabon beschlossen sie 2007 einen formal neuen, inhaltlich aber kaum geänderten Reformvertrag.

  • Vorgesehen ist etwa, das Vetorecht der 27 Mitgliedstaaten einzuschränken und öfter Mehrheitsentscheidungen zuzulassen.
  • Zugleich bekommt die Union mehr Macht, etwa beim Strafrecht. Künftig können die EU-Staaten einstimmig neue Straftatbestände einführen. Bislang konnte dies in Deutschland nur der Bundestag.

Vertrag von Lissabon

Das Gericht entscheidet über die Verfassungsklagen Gauweilers, der Linksfraktion im Bundestag, des ÖDP ("Die Öko-Demokraten")-Chefs Klaus Buchner und einer Gruppe um den Juristen Franz Ludwig Schenk Graf von Stauffenberg.

Die Kläger rügen, dass es durch die Verlagerung von Kompetenzen auf die EU zu einer "Entmachtung" des Bundestags und einem "Verlust der staatlichen Souveränität Deutschlands" komme. Rechtsakte der EU seien zudem nicht ausreichend demokratisch legitimiert.

Droht ein "Grundrechte-Dumping"?

Vor allem die sogenannte Flexibilitätsklausel, nach der die EU auch dort ergänzend eingreifen darf, wo sie eigentlich keine Befugnis hat, ist den Gegnern ein Dorn im Auge. Im Kern des komplexen Streits geht es um die Frage, ob die Übertragung weiterer Machtbefugnisse an die Europäische Union das deutsche Demokratieprinzip und das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt. Die Befürchtung der Kritiker ist, dass der Bundestag zu viel Macht und Gestaltungsspielraum an Brüssel abtrete.

Die Gründe der Ablehnung sind verschieden. Die Linksfraktion moniert den Verlust parlamentarischer Kontrolle im Militär- und Sozialstaatsbereich. Sie befürchtet, dass europäische Militäreinsätze nicht mehr von nationalen Parlamenten kontrolliert werden können.

Gauweiler sieht die nationale Souveränität in Gefahr: Die Möglichkeit, Beschlüsse im Rat mit Mehrheit statt wie bisher einstimmig zu fassen, verhindere die wirksame Einflussnahme der Mitgliedstaaten. Die Hoheitsrechte Deutschlands würden in "unüberschaubarer Weise" auf die EU übertragen, fürchtet der CSU-Querkopf. Beispielsweise könne der Europäische Gerichtshof (EuGH) theoretisch das deutsche Embryonenschutzgesetz kippen - weil ein verbotener Handel mit Embryonen dem Grundsatz des freien Warenverkehrs widerspreche.

Die Übertragung von Zuständigkeiten der Inneren Sicherheit auf die EU hebele faktisch das Grundrecht der Deutschen auf eine Vertretung durch den Bundestag aus, argumentiert er. Zudem sei das Europäische Parlament "in einem undemokratischen Verfahren gewählt" und nicht hinreichend vom Volk legitimiert.

In der mündlichen Verhandlung im Februar hatten Steinmeier und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) das Vertragswerk verteidigt. Wie das Urteil ausfallen wird, können aber selbst erfahrene Europarechtler nicht vorhersagen.

SPIEGEL ONLINE beschreibt die möglichen Szenarien - und ihre Konsequenzen.

Szenario 1: Die Klagen werden abgelehnt

Dass Karlsruhe die Zustimmung des Bundestags zur EU-Reform einfach so abnickt, ist angesichts der vielen skeptischen Kommentare undenkbar. Die Richter zeigten sich bereits bei der mündlichen Verhandlung nicht von allen Facetten des EU-Vertrages restlos überzeugt.

Kritisch wurde vor allem eine mögliche "Entstaatlichung" Deutschlands durch die Verlagerung von Kompetenzen des Bundestages auf die EU gesehen. Auch die angeblich unzureichende demokratische Legitimation der EU durch das Volk wurde mehrfach bemängelt. Der als europaskeptisch geltende Richter Udo di Fabio warnte schon vor Jahren vor einem "Einstieg in den Ausstieg" aus dem völkervertraglichen Charakter der EU.

Sollte das BverfG alle Verfassungsklagen ablehnen, könnte der deutsche Ratifizierungsprozess unverzüglich zu Ende gebracht werden. Die von Bundespräsident Köhler unterzeichnete Ratifikationsurkunde würde an die EU gesandt.

Szenario 2: Das Zustimmungsgesetz wird gekippt

Indirekt könnten die Richter des Zweiten Senats das Vertragswerk platzen lassen. Erklärt das Gericht das Zustimmungsgesetz für verfassungswidrig, wäre der EU-Vertrag in dieser Form gescheitert und müsste völlig neu verhandelt werden - mit verheerenden Folgen für die europäische Integration.

In diesem Fall würde es zu einer gigantischen politischen Krise der EU kommen. Die 27 Mitgliedsländer müssten den mühsam ausgehandelten Vertrag neu ratifizieren - eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Damit wäre der Lissabon-Vertrag tot und auch eine Erweiterung ausgeschlossen: Deutschland und Frankreich lehnen eine Aufnahme weiterer Staaten ab, so lange der Reformvertrag nicht greift.

Übrigens kann der Bundestag nicht einfach nachträglich erklären, seine Billigung gelte auch für einen überarbeiteten Reformvertrag. Das Zustimmungsgesetz segnet den EU-Vertrag so ab, wie er ist.

In Regierungskreisen gibt man sich allerdings gelassen: Insider halten es für undenkbar, dass die Richter den Vertrag scheitern lassen wollen. Dass Karlsruhe Änderungen an dem Dokument selbst verlangt, gilt als eher unwahrscheinlich. Allerdings erwarten Experten eine Reihe von Auflagen.

Szenario 3: Deutschland muss Auflagen erfüllen

Verfahrensbeteiligte halten einen Kompromiss - also eine Korrektur einiger Kernpunkte, ohne den Vertrag als solchen scheitern zu lassen - für relativ wahrscheinlich. Der Vorsitzende des Europaausschusses des Bundestags, Gunther Krichbaum (CDU), etwa rechnet damit, dass Karlsruhe in das Zustimmungsgesetz "einige Leitplanken einziehen wird".

Denkbar wäre, dass das Gericht der Bundesregierung auferlegt, vor ihrer endgültigen Zustimmung zu einschlägigen EU-Entscheidungen generell zunächst das Parlament zu befragen. Durch diesen sogenannten Parlamentsvorbehalt würde der deutsche Souverän stärker in die Entscheidungsprozesse involviert - und die umstrittene Flexibilitätsklausel abgeschwächt.

Ob das Verfassungsgericht das nach Ansicht Gauweilers "notorische Demokratiedefizit der EU" beanstandet, ist offen. Richter Udo di Fabio hatte aber im Februar betont, es müsse eine "Legitimationskette" von jedem EU-Amt zum Volk angestrebt werden.

Als Konsequenz dieses Urteils müsste das sogenannte Begleitgesetz überarbeitet werden - und zwar schnell: Am Freitag endet die letzte Sitzungswoche vor der Sommerpause. Vorsorglich wurde für Mittwoch eine Bundestagsdebatte über die Entscheidung der Richter zum Lissabon-Vertrag angesetzt.

Wie SPIEGEL ONLINE aus Regierungskreisen erfuhr, würde diese dann bereits als Erste Lesung gelten, und ein möglicherweise überarbeitetes Gesetz direkt in die zuständigen Ausschüsse überwiesen werden. Theoretisch könnte dann eine entsprechende Erklärung bereits am Freitag verabschiedet werden - allerdings nur, wenn die Fraktionen mitziehen. Hagelt es gegen die Hauruck-Aktion massenhaft Einspruch, müsste der Bundestag seine Sommerpause für eine Sondersitzung unterbrechen.

Warum Karlsruhe in eigenem Interesse entscheidet

Schließlich dürften die Karlsruher Richter noch etwas in eigener Sache vorbringen. Denn es gibt im EU-Reformvertrag eine Klausel, durch die der Vertrag zu einer Art "europäischen Oberverfassung" gemacht wird. Die Folge könnte sein, dass der EuGH sich in rein innerstaatliche Verfassungsangelegenheiten einmischen dürfte, bei denen es umstritten ist, ob es um Europarecht geht - und hierbei das Bundesverfassungsgericht korrigiert. Ob sich Karlsruhe dies gefallen lässt, ist eine der spannenden Fragen, die am Dienstag beantwortet werden.

Solch eine Entmündigung dürfte das Bundesverfassungsgericht wohl kaum hinnehmen. Darauf lassen auch mehrere Entscheidungen des Gericht in der Vergangenheit schließen. Bereits in seinem Urteil von 1993 zum Vertrag von Maastricht bezeichnete es die Aufgabenverteilung zwischen ihm und dem EuGH zur Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht in Deutschland selbstbewusst als "Kooperationsverhältnis".

Im 1986 ergangenen "Solange-II-Beschluss" betonte Karlsruhe die Grenzen dieser Kooperation. Der Beschluss bekam diesen Namen, weil das Gericht darin bestimmt, dass es "nur solange" auf die Ausübung seiner Gerichtsbarkeit verzichtet, wie auf Gemeinschaftsebene ein ausreichender Grundrechtsschutz durch den EuGH gewährleistet ist.

Auf dieses Recht der letzten Entscheidung wird das Gericht voraussichtlich weiterhin pochen. Die Verfassungshüter könnten am Dienstag fordern, dass der Erhalt dieser Kontrollbefugnis in den deutschen Ausführungsgesetzen zum Lissabon-Vertrag beachtet wird. Mit dem Parlamentsvorbehalt und dem Kontrollvorbehalt des Gerichts wären das Souveränitätsprinzip und auch das Prinzip der demokratischen Gewaltenteilung gewahrt.

Mitarbeit: Dietmar Hipp, Severin Weiland

mit Reuters, AP, ddp, AFP
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