Kleinstparteien für Europa "Naturmedizin für alle!"
Berlin - 136 Milliarden Euro. So viel ließe sich allein im deutschen Bundeshaushalt jedes Jahr einsparen, wenn man die Behandlung von chronisch Kranken auf Naturheilverfahren umstellen würde. Das glaubt zumindest Hans-Christoph Scheiner, Bundesvorsitzender der Partei "Aufbruch", die am 7. Juni zur Europawahl antritt. Slogan: "Naturmedizin für alle!"
Was man mit den gesparten 136 Milliarden anfangen könnte, davon hat Scheiner schon eine genaue Vorstellung: den Haushalt stabilisieren, große Arbeitsbeschaffungsprogramme auflegen und mehr Sozialarbeiter in die städtischen Brennpunkte schicken. Auf der Homepage seiner Münchner Praxis beschreibt sich der Arzt selbst als "herausragenden Experten auf dem Gebiet der Naturheilkunde und der psychomentalen Medizin". Nach Feierabend hält Scheiner Vorträge über die Gefahren von Handystrahlung; die könne Nierenkrebs und Hodenkrebs auslösen.
Bei der letzten Europawahl holte "Aufbruch" 0,2 Prozent der Stimmen, jetzt sollen es mindestens 0,5 Prozent werden. Dann gibt es Gelder aus der staatlichen Parteienfinanzierung. Bislang ist die Politik für Hans-Christoph Scheiner und seine Mitstreiter ein teures Privatvergnügen.
"Mitglieder und Anhänger von Kleinstparteien sind weit überdurchschnittlich engagiert", sagt der Chemnitzer Politologe Florian Hartleb, der die Zwergparteien wissenschaftlich erforscht. Seine Prognose: "Bei den Europawahlen ist die Beteiligung erfahrungsgemäß niedrig, das nützt den kleinen Parteien."
26 Politzwerge hoffen allein in Deutschland auf ihre große Chance am 7. Juni.
Einmal sind da die üblichen Extremisten von rechts und links: NPD, DVU und die Kommunisten von der DKP. Die Partei für Soziale Gleichheit (PSG) sieht sich in der Tradition der Vierten Internationalen, die 1938 unter Mitwirkung von Leo Trotzki gegründet wurde.
Dann die Ein-Punkt-Parteien: Sie konzentrieren sich ganz auf ein spezielles Thema oder Zielpublikum - Tierschutz, Weltfrieden, Familienförderung, Frauenrechte. Manchmal kommen sie sich dabei gegenseitig in die Quere. Allein um die Gruppe der Rentner konkurrieren auf deutschen Wahlzetteln vier Kleinstparteien: 50Plus, Die Grauen, die Rentnerinnen- und Rentner-Partei und die Rentner-Partei-Deutschland.
Mit einem "sympathischen, neuen Programm" wirbt die politische Vereinigung "Europa, Demokratie, Esperanto" (EDE). Der Verein fordert die Einführung der Kunstsprache Esperanto als Arbeitssprache im Europäischen Parlament. Damit könne man pro Jahr 1,1 Milliarden Euro an Übersetzungskosten einsparen - und nebenbei die kulturelle Dominanz des Englischen zurückdrängen.
Ganzheitlich und spirituell für Europa
Schließlich die Sektierer: Esoterische oder religiöse Gruppen mit teils abstrusen Weltanschauungen. Politologe Hartleb zählt dazu die Bibeltreuen Christen, die Christliche Mitte, die Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) und Hans-Christoph Scheiners "Aufbruch".
Besonders schillernd auch "Die Violetten". Deren Parteivorsitzende heißt Gudula Blau. Manche kennen sie als eine der Ex-Ehefrauen des Afrika-Aktivisten Karlheinz Böhm, als Chansonsängerin und Filmschauspielerin ("Das fliegende Klassenzimmer"). In Europa will Gudula Blau eine "ganzheitliche" Politik durchsetzen; die "Spiritualität in die Öffentlichkeit tragen", wie es im Parteiprogramm heißt. Bei der hessischen Landtagswahl 2008 machten 0,1 Prozent der Wähler ihr Kreuz bei den "Violetten". Wie viele Menschen sich europaweit für die spirituelle Politik interessieren könnten, das will Gudula Blau auf Anfrage lieber nicht beantworten.
Die Piratenpartei will die Internet-Generation gewinnen
Näher am wirklichen Leben sind da schon die Computer-Nerds von der Piratenpartei. In ihrem Wahlwerbespot streiten sie gegen Studiengebühren, Internet-Zensur, biometrische Reisepässe und GEZ-Gebühren auf Laptops. Am Ende des Films ist ein Mann im Rollstuhl vor einer Wand aus Überwachungsmonitoren zu sehen. Die Piraten haben Innenminister Schäuble zu ihrem Lieblingsfeind erkoren. Daneben neuerdings auch Familienministerin von der Leyen. Die geplante Internet-Sperre gegen Kinderpornografie empfinden die Piraten als gefährliche Zensurmaßnahme, die keinem Kind wirklich helfe.
"Wir sind für Bürgerrechte und gegen Überwachung, damit sprechen wir besonders die junge Internet-Generation an, die sich bei den etablierten Parteien nicht aufgehoben fühlt", sagt Andreas Popp. Wer mit dem Spitzenkandidaten der deutschen Piratenpartei telefoniert, hört ein Rauschen im Hintergrund. Das Gespräch läuft verschlüsselt über das Internet-Programm Skype. Popp, ein diplomierter Wirtschaftsmathematiker, nutzt für Telefonate den Laptop.
In ihrem Ursprungsland Schweden liegt die Piratenpartei in Umfragen derzeit zwischen 5,6 und 8,5 Prozent. Zumindest ein Sitz im Europäischen Parlament wäre den Computer-Nerds damit sicher. Die meisten anderen Zwergparteien können davon nur träumen.