Nikolaus Blome

Umwelt Wollen Klimaschützer etwa keine guten Nachrichten?

Nikolaus Blome
Eine Kolumne von Nikolaus Blome
Deutschland übererfüllt seine CO₂-Ziele, aber kaum einer mag es wahrhaben. Wer auch nur einen Moment zufrieden ist, macht sich verdächtig.
Braunkohlekraftwerk in der Lausitz: Deutschland hat im Jahr 2022 den CO₂-Ausstoß weiter gesenkt und unterm Strich das Etappenziel erreicht

Braunkohlekraftwerk in der Lausitz: Deutschland hat im Jahr 2022 den CO₂-Ausstoß weiter gesenkt und unterm Strich das Etappenziel erreicht

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Patrick Pleul / dpa

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Vergangene Woche wurden die amtlichen Zahlen zur CO₂-Minderung veröffentlicht, und ich Tropf habe wirklich gedacht, jetzt darf man sich mal kurz freuen oder wenigstens zufrieden sein. Deutschland hat im Jahr 2022 den CO₂-Ausstoß weiter gesenkt und unterm Strich das Etappenziel erreicht.

Ja, ich gebe zu, im Stillen hatte ich sogar gehofft, die Klimaaktivisten würden für einen Moment ein bisschen leiser sein. Schließlich hatten ihre Leib- und Magen-Experten von der Agora Energiewende Anfang Januar auf Basis von Studien verkündet: »Die Rückkehr der Kohle macht Energiespareffekte zunichte und lässt die Emissionen 2022 mit 761 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente auf Vorjahresniveau stagnieren.« Richtig war dann die Zahl 746 Mio. Tonnen, minus 1,9 Prozent zum Vorjahr, Ziel erfüllt.

Follow the figures, ließe sich spotten: Klimaexperten, die für Götter gehalten werden, sind eben auch nur Menschen. Aber im Ernst, nach über 20 Jahren im Hauptstadtgeschäft kenne ich nicht viele politische Großziele, die dermaßen punktgenau erfüllt wurden. Allein: Wer sich über Fortschritte beim Klimaschutz freut, macht sich der Verharmlosung verdächtig.

Die »Süddeutsche« titelte darum: »Verkehrsministerium reißt Klimaziele«.  »Bei Verkehr und Gebäuden verfehlt Deutschland die Klimaschutzziele für 2022«, schrieb auch SPIEGEL.de über einen Nachrichtentext. Und der Chef der Grünen Jugend Timon Dzienus klagte: »Klimabilanz 2022: Grund zur Sorge! Wieder mal ist die Klimabilanz gar nicht gut, weil im Wohnbereich zu wenig und im Verkehrsbereich gar nichts passiert – die Emissionen steigen sogar!«

Ich weiß nicht, welche Schule der junge Mann besucht hat, aber zu meinen Zeiten kam man mit dem Sommerzeugnis nach Hause und rief: »Ich hab’s geschafft, ich bin versetzt.« Man rief nicht: »Ich hab eine Fünf in Englisch.«

Niemand Ernstzunehmendes leugnet den Klimawandel, aber zählt nicht erst einmal, wie viel CO₂ insgesamt ausgestoßen wird? Oder ist CO₂ immer dann schlimmer, wenn und weil es aus dem Verantwortungsbereich eines FDP-Ministers stammt? Kurzum: Mir ist der Eifer nicht geheuer, mit dem die Zahlen in eine vollumfängliche Versagenserzählung gepresst wurden.

So entstand der Eindruck, die prozentuale CO₂-Reduzierung des Jahres 2022 sei nicht viel wert, weil das Tempo nun verdreifacht werden müsste, um auch das 2030er-Ziel zu erreichen. Das kann man so rechnen, aber man muss nicht. Von Anfang 2011 bis Ende 2022 sank der CO₂-Ausstoß um 20 Prozent, macht pro Jahr im Schnitt 1,66 Prozentpunkte. Dieselbe Rechnung für die Zeit ab Anfang 2023 bis zum Zielwert Ende 2030 ergibt im Schnitt nötige 5,2 Prozentpunkte an jährlicher Reduzierung, also besagte Verdreifachung.

Aber: Nimmt man das Reduzierungstempo der sechs Jahre von Anfang 2017 bis Ende 2022 zum Maßstab, ist im Vergleich dazu bis 2030 nur merklich weniger als eine Verdoppelung nötig. Gewiss kein Kinderspiel, schließlich wurde der 2030er-Zielwert erst Mitte 2021 drastisch verschärft. Aber angesichts der stetig erweiterten Klimaschutzprogramme und -investitionen scheint es nicht völlig unmöglich. Phasenweise war man bereits im richtigen Tempo unterwegs, wie eine Grafik aus der »Zeit« nahelegt. 

Selbst die als katastrophisch beschrienen Fehlbeträge bei Verkehr und Gebäuden klingen, in Prozent ausgedrückt, nicht unbedingt nach unrettbarem Weltuntergang: 93,4 bzw. 95,7 Prozent sektoraler Zielerfüllung standen zu Buche. Andere Sektoren wie Energiewirtschaft, Industrie oder die Landwirtschaft überkompensierten das Fehlende, aber auch daran fanden die Aktivisten-Experten viel Madiges. Die Einsparungen in der Industrie sind demnach nur auf die kriegsbedingt erhöhten Energiepreise und in der Folge auf Produktionskürzungen zurückzuführen, nicht aber auf jene »Transformation«, welche die Guten im Banner tragen. Ebenso hätte der Energiesektor die negativen Effekte vermehrter Kohleverstromung bilanziell nur ausgleichen können, weil die Bürger ebenfalls unter dem Druck der Preise daheim weniger geheizt hätten.

An dieser Stelle habe ich mich gefragt, was die Klimaschützer und ihre politmedialen Milieus eigentlich wollen: Es war doch die ganze Idee, CO₂-überproduzierendes Verhalten aus dem Markt zu preisen, sei es durch höhere Steuern, Abgaben oder die Verteuerung der Emissionsrechte. Nun hat es der Krieg gefügt, und die Preise werden trotz aller Bremsen auch darüber hinaus viel höher als früher bleiben. Vergleichbares hätte die neue Bundesregierung niemals geschafft: Man stelle sich vor, Scholz, Habeck und Lindner hätten ohne Krieg den Deutschen erklärt: Wir verlangen von euch 20 Prozent weniger Heizverbrauch, und wir verdoppeln bis verdreifachen euch die Preise. Man hätte tags drauf das Kanzleramt niedergebrannt.

So ist die Frage also: Wie nennt man das Glas halb voll, ohne naiv zu sein? Wie lässt sich das Erreichte würdigen, ohne Entwarnung zu geben? Und vor allem: Wie lässt sich die nötige Beschleunigung bewerkstelligen? Für jene Klimaaktivisten, die nur eine Peitsche haben, sehen alle Probleme aus wie die nackten Rücken der Sünder. Dabei ist bekannt, dass man Menschen jeden Alters mit Loben auf Dauer besser anleitet als mit Tadeln. Das gilt beim Spülmaschineausräumen, Powerpoint-Malen, im Privaten wie im Beruf. Deshalb sollte es bei der großen Menschheitsaufgabe dieses Jahrhunderts auch gelten, finde ich.

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