Koalitionschaos unter Merkel Deutschlands oberste Piratin

Improvisieren statt regieren, Streiterei statt Einigkeit: Der Zoff um Betreuungsgeld und Vorratsdaten will nicht enden, die Koalitionspartner machen Ärger - und nun droht der Kanzlerin in Europa auch noch die Isolation. Diese Koalition hat sich Angela Merkel anders vorgestellt. Hält Schwarz-Gelb bis 2013 durch?
Kanzlerin Merkel mit Papagei (im Vogelpark Marlow): Wie lange hält Schwarz-Gelb durch?

Kanzlerin Merkel mit Papagei (im Vogelpark Marlow): Wie lange hält Schwarz-Gelb durch?

Foto: Franzi Zöger/ dpa

Berlin - Alle reden über die Piraten. Darüber, wie dilettantisch die Aufsteiger-Truppe sich derzeit in der Politik versucht. Wie vielstimmig die Debatten in ihren Reihen sind. Wie Streit offen ausgetragen wird. Ist das ein Chaos bei denen, rufen manche Beobachter aus, die einen voller Spott, die anderen fassungslos.

Das ist ungerecht. Großes Tohuwabohu muss man in der deutschen Politik gar nicht bei den Piraten suchen. Man findet es auch in der Riege der etablierten Kräfte des Parteiensystems: bei Union und FDP. Die schwarz-gelbe Koalition sorgt selbst für ein Durcheinander, wie es eine Partei in der Selbstfindungsphase nicht besser anrichten könnte. Und die Kanzlerin lässt es geschehen. Angela Merkel ist Deutschlands oberste Piratin.

Es gibt allerdings einen elementaren Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und den Piraten - abgesehen davon, dass die einen ein Land regieren sollen. Der Piratenpartei schadet ihr manchmal amateurhaftes Auftreten bislang nicht. Im Gegenteil: Die Umfragewerte steigen und steigen, die nächsten Landtage locken. Merkel und ihrer Regierung dagegen nehmen die Bürger die andauernde Kakofonie übel. Schwarz-Gelb droht 2013 das Aus. Spätestens.

Tatsächlich wird derzeit immer offener die Frage gestellt, ob die Koalition nicht schon vorzeitig zerbrechen könnte. "Wie lange geht das noch gut?", fragt am Dienstag die "Bild"-Zeitung. Auch die bürgerliche "FAZ" äußerte bereits Zweifel: "Will diese Koalition zusammenbleiben?" Offiziell ist natürlich alles in bester Ordnung. Man arbeite "gut und erfolgreich zusammen" und habe "auch weiterhin viel vor", sagt Merkel. Unionsfraktionsmanager Peter Altmaier, ein Vertrauter der Kanzlerin, beteuert: "Die Koalition hält, und zwar bis zum Ende der Wahlperiode."

Mancher mag das als Drohung auffassen. Oder als eine dieser Geschlossenheitsfloskeln abtun, die auch im Fußball gern zum Besten gegeben werden, wenn es in Wahrheit besonders schlimm steht. Es ist jedenfalls nicht ausgemacht, dass Schwarz-Gelb wirklich die vollen vier Jahre schafft. Merkel weiß: Nach einer nicht unwahrscheinlichen Doppelschlappe bei den anstehenden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen könnte sich eine unangenehme Dynamik entwickeln - vorzeitiges Scheitern nicht ausgeschlossen. Gefahren lauern überall.

Dauerstreit bei den Inhalten: Das inhaltliche Erscheinungsbild der Koalition ist derzeit alles andere als harmonisch. Egal, worum es geht, die Fronten verlaufen quer durch die Koalition, Machtworte verhallen ungehört. Betreuungsgeld, Renten, Frauenquote, Mindestlöhne, Finanzsteuer, Praxisgebühr, Pendlerpauschale, Vorratsdatenspeicherung - einheitliche Positionen? Fehlanzeige. Die Selbstblockade wird zum Regierungsprogramm.

Alles halb so schlimm, glaubt CDU-Mann Altmaier: "Der Pulverdampf der Wahlkämpfe wird sich legen." Dann soll es wieder vorangehen. Das allerdings dürfte Wunschdenken bleiben. Zu tief sind die Gräben vor allem bei den aktuellen Großbaustellen: Bei der Vorratsdatenspeicherung hat sich die FDP eingebunkert, jetzt drohen Strafzahlungen nach Brüssel - und kein Kompromiss ist in Sicht. Genauso wenig beim Betreuungsgeld, dem teuren Herzensanliegen der CSU. Hier versucht die CDU den Frieden mit einer Elternrentenkorrektur zu erkaufen, die noch einmal Milliarden Euro kosten würde - mitten in der Schuldenkrise. "Irre", finden das sogar Unionsabgeordnete.

Störmanöver aus München: Horst Seehofer hat das Betreuungsgeld zur Koalitionsfrage erhoben, zum Symbol bayerischer Selbstbehauptung in Berlin. Die glaubt der CSU-Chef unbedingt demonstrieren zu müssen, schließlich will er 2013 in der Heimat die absolute Mehrheit zurückholen. Das, so das Kalkül des bayerischen Ministerpräsidenten, funktioniert am besten, wenn die CSU auch in der Hauptstadt ihre Durchsetzungsfähigkeit beweist.

Liberaler Niedergang: Auch die FDP dürfte in den kommenden Monaten nicht zum Stabilitätsanker taugen. Bei den kommenden Landtagswahlen könnte der liberale Niedergang weitergehen. Fällt die FDP in Kiel und Düsseldorf aus den Parlamenten, steigt in Berlin der Druck. Zieht die Kanzlerin - im Stile Gerhard Schröders - die Reißleine und wirft die verzwergte FDP raus? Das sei Parteichef Philipp Röslers "größte Angst", orakelt die "Bild" am Dienstag. Allerdings muss sich Rösler wohl größere Sorgen machen, dass er das Amt des FDP-Vorsitzenden behält. Ein Neuwahl-Harakiri ist nicht Merkels Art. Die Alternative: weiterwurschteln, mit oder ohne Rösler. Für die FDP wird es dann nur noch darum gehen, im Spätsommer 2013 wieder in den Bundestag zu kommen - auch auf Kosten des Koalitionspartners. Und die Union würde darauf hoffen, sich in die Große Koalition retten zu können. Ach ja, regieren müssten sie ja auch noch - auf Sparflamme.

Isolation in Europa: Bislang hat Merkel solche Phasen innenpolitischen Stillstands gut überstanden. Sie konnte sich ja auf dem außenpolitischen Parkett profilieren. Doch selbst das könnte in Zukunft schwierig werden - ihr droht der Verlust der Verbündeten in Europa. Gewinnt François Hollande am 6. Mai in Frankreich den zweiten Wahlgang, hat die Kanzlerin einen mächtigen Gegenspieler. Der Sozialist hält nicht viel von Merkels Sparkurs, will notfalls ihren Fiskalpakt wieder aufweichen. Nicht ausgeschlossen, dass er dafür andere Staatenlenker der Währungsunion gewinnt, die zu Hause mit den Auflagen aus Brüssel kämpfen. In den Niederlanden ist die Regierung gerade an den Sparplänen zerbrochen, in der Slowakei wurde die liberal-konservative Koalition durch einen Sozialdemokraten abgelöst. Der einstigen "Miss Europe" Merkel droht die Isolation.

Keine schönen Aussichten, das haben sie auch in der Union registriert. Die Spitzen bemühen sich jetzt um eine Beruhigung der Lage. Unionsfraktionschef Volker Kauder mahnte die Abgeordneten am Dienstagnachmittag, die leidigen Streitthemen nicht weiter öffentlich zu befeuern. Die Kanzlerin, so war zu hören, sei gut gelaunt gewesen - und schwieg. Von Donnerstag an zieht sie in Schleswig-Holstein und NRW wieder in den Wahlkampf. Noch elf Auftritte stehen bis Mitte Mai auf dem Programm. Sie weiß, worum es geht.

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