
S.P.O.N. - Im Zweifel links Lust der Angst

Ein Jahresbeginn wie ein Faustschlag. Ganz Deutschland ist von einer ungeheuren Erschütterung erfasst. Mit den Ereignissen in Köln allein ist das nicht zu erklären. Wir erleben ein Land im Zustand der sozialpsychologischen Kernschmelze: Kultureller Hochmut gegenüber dem Islam verbindet sich mit der Abwehr des eigenen Sexismus. Das ist eine brisante Mischung. Überraschend ist, wie anfällig die Deutschen sind.
Die Frauen von Köln sind dabei längst Nebendarsteller. Schlimmer: Sie werden zum zweiten Mal missbraucht.
"Ganz zum Schluss aber möchte ich eine Bitte an uns Deutsche richten: dass auch wir diesem grundlegend gebesserten Land zuallererst in der Grundhaltung des Vertrauens begegnen." Joachim Gauck hat das mal in einer Rede gesagt. Die vergangene Woche lässt daran zweifeln, ob dieses Vertrauen gerechtfertigt ist. Denn die wahre Lehre von "Köln" hat viel weniger mit grapschenden und stehlenden Ausländern zu tun als mit den Deutschen selbst: Sie können sich ihrer selbst nicht so sicher sein wie sie bisher geglaubt haben. Bis weit in die Kreise hinein, die sich selbst für liberal halten, hat sich ein Rassismus mit gutem Gewissen verbreitet. Es sind nicht die notgeilen Muslime, die wir fürchten müssen. Sondern uns selbst.
Die Politiker spüren das. Sie haben Angst vor ihrem Volk. Sie trauen den Deutschen nicht über den Weg. Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hielt die Klarstellung für nötig: "Es gibt keinen Bonus für Nationalität oder Aufenthaltsstatus." Ein sonderbarer Satz. Er evoziert gerade das, was er leugnet. Und so gossen aus lauter Furcht die, die das Feuer hätten löschen sollen, noch mehr Öl in die Flammen.
Justizminister Heiko Maas sprach von "Zivilisationsbruch" - ein Wort, das bislang für die Shoa vorbehalten war. Und Cem Özdemir nannte das, was sich in jener Nacht abgespielt hatte grässlich. So, als seien in Köln Frauen verspeist, nicht beraubt und bedrängt worden.
Wenn Sexismus und Rassismus sich treffen
Was war "Köln"? Das kolossale Versagen der Polizei. Das ist die einzig sichere Information, die wir haben. Es darf einer Stadt doch nicht die Kontrolle über ihr eigenes Zentrum entgleiten. Zu den Tätern gibt es vor allem Spekulationen. Eine lautet, dass sie zu jener besonders verzweifelten Gruppe von Migranten gehören, die zwar keinen Aufenthaltstitel haben, in Deutschland aber geduldet werden. Sie dürfen bleiben, aber keine Wurzeln schlagen. Sie leben in Sicherheit, aber auch in Sinnlosigkeit. Wer aus "Köln" etwas lernen will, könnte hier ansetzen: bei der örtlichen Polizei und bei unsinnigen Einwanderungsregeln.
Darum geht es aber nicht. "Köln" erlangt solche Wucht, weil sich hier Rassismus und Sexismus treffen. Das Münchner Magazin "Focus" hat das ungewollt illustriert: Das Titelbild vom vergangenen Wochenende zeigt eine nackte blonde Frau. Sie ist von den Abdrücken schwarzer Hände gezeichnet. In diesem Bild wird der Körper der blonden Frau zwar gegen die schwarze Bedrohung verteidigt - bleibt aber für den weißen Mann verfügbar. Die Opfer von Köln werden hier zum zweiten Mal missbraucht.
Die feministische Publizistin Teresa Bücker spottet: "Wenn jetzt alle auf Dauer so engagiert gegen sexualisierte Gewalt bleiben wie in den letzten Tagen, dann ist sie bald weg." So wird es nicht kommen. Das deutsche Sexualstrafrecht ist rückständig. Es wäre ein Leichtes, die Istanbul-Konvention zu ratifizieren. Jede nicht einverständliche sexuelle Handlung wäre dann endlich unter Strafe gestellt. Das ist in Deutschland immer noch nicht der Fall. Die Union sträubte sich bislang. 1997 tat sie sich schwer damit, dass Vergewaltigungen in der Ehe auch als solche bezeichnet und bestraft werden. Leute wie Horst Seehofer oder Volker Kauder stimmten damals dagegen. Heute verlangt CSU-Verkehrsminister Dobrindt: "Es muss zu einer zwingenden Ausweisung bei Sexualdelikten kommen."
Gemeinsam ist allen Rassisten das gute Gewissen
Das Interesse an Gesetzen, die Frauen wirksam vor männlicher Zudringlichkeit schützen, ist nur dann groß, wenn es um die Zudringlichkeit von Ausländern geht. "Unsere" Frauen missbrauchen wir bitte selbst. So sieht es aus, wenn Sexismus und Rassismus sich treffen.
Ja, Rassismus. In der Vergangenheit überwog der biologische Rassismus, in der Gegenwart der kulturelle. Früher nutzte man "wissenschaftliche" Methoden, um die Menschen in höhere und niedere Geschöpfe zu teilen: Schädelvermessungen und Vererbungslehren. Heute genügen phänomenologische Argumente, um die Kulturen in wertvolle und wertlose zu teilen. "Eine islamische Sozialisation bringt ein Frauenbild hervor, das nicht selten zu solchen Verbrechen führt", hat der Journalist Harald Martenstein geschrieben. Frühere Rassisten hätten gesagt, die Muslime seien geborene Verbrecher. Heutige sagen, sie seien gelernte. Gemeinsam ist allen Rassisten das gute Gewissen.
Und auch die Folgen für die Opfer sind die gleichen: es gibt wieder Pogrome in Deutschland. Häuser, in denen Ausländer wohnen, werden angezündet und beschossen. Am Wochenende teilte die Kölner Polizei mit, es habe Hinweise auf Personengruppen gegeben, die "gezielt Provokationen suchen würden." Der "Kölner Express" sprach von "Menschenjagd". Zwei Pakistaner kamen ins Krankenhaus. Ein Syrer wurde leicht verletzt.
Der Schriftsteller Arthur Koestler schrieb im Rückblick auf die Dreißigerjahre in Deutschland: "Wir kapitulierten einfach vor der rapid wachsenden Brutalisierung der Masse."
