
Kombi-Bahnhof für Stuttgart Geißlers Paukenschlag setzt Freund und Feind unter Zugzwang
Für Heiner Geißler läuft es erstmal nicht gut an diesem Tag: Da ist einmal dieser vorlaute junge Mann mit den roten Haaren, der dem altehrwürdigen Schlichter schon nach wenigen Minuten zum ersten Mal ins Wort fällt. Hannes Rockenbauch ist Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, er gibt in der Auseinandersetzung um S21 gerne den jungen Wilden.
Irgendwann, nachdem Rockenbauch zum wiederholten Mal auf seinen Mikrofonknopf gedrückt und los gepoltert hat, ohne auf der Rednerliste zu stehen, sagt Geißler zu ihm: "Ich werde schauen, ob ich Ihnen den Strom abstellen kann." Er sagt es nicht in diesem leicht ironischen Geißler-Ton, der ihm sonst eigen ist. Als nächstes ist es ein Füller, der dem Schlichter Ärger macht: Er ist in der Innentasche seines hellgrauen Samtsakkos ausgelaufen, auch die gelbe Aktenmappe ist mit Tintenklecksen besudelt.
Aber das sind Kleinigkeiten gegen das eigentliche Problem, mit dem Geißler an diesem Freitag im Stuttgarter Rathaus zu kämpfen scheint: Dem Schlichter droht in den Stunden der öffentlichen Stresstest-Präsentation die Auseinandersetzung um S21 zu entgleiten.
Im vergangenen Oktober hatte der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus - in höchster Not - Geißler zum Schlichter ernannt. Dem früheren CDU-Generalsekretär und heutigen Attac-Mitglied gelang in den darauffolgenden Wochen tatsächlich die vorübergehende Befriedung des Konflikts. Sein Schlichterspruch am 30. November machte beiden Seiten Hoffnung: Die schwarz-gelbe Koalition und die Bahn hofften auf den Erfolg des vereinbarten Stresstests, die S21-Gegner auf das Gegenteil.
"Ein typischer Geißler"
Der Sitzungssaal im vierten Stock des Stuttgarter Rathauses ist ein freundlicher Raum, viel helles Holz, eine lange Fensterfront. Aber die Atmosphäre zwischen Befürwortern und Gegnern des Bahnhofprojekts am runden Tisch ist von Anfang an alles andere als freundlich. Geißler scheint das mit jeder Minute klarer zu werden, in der weitere böse Worte hin und her gehen. Das Stresstest-Testat der Schweizer Gutachter von SMA wird von den Aktionsbündnis-Leuten heftig in die Mangel genommen, die Bahn-Manager kontern hart. Wenig präsent wirkt der Schlichter da, passiv, beinahe fahrig. Einmal sagt Geißler: "Das hab ich jetzt nicht verstanden, aber das ist mir jetzt auch egal." Ist es vielleicht, 81 wurde er im März, doch das Alter?
Ist es nicht.
Geißler, hellwach wie eh und je, hat gedanklich schon wieder den nächsten Schritt gemacht, während um ihn herum die verbalen Giftpfeile fliegen. Er selbst hat auch noch einen Pfeil im Köcher - wie er den einsetzt, muss er in Ruhe abwägen. Deshalb - das wird im Nachhinein klar - verlässt er gegen Mittag auch für eine ganze Weile den Sitzungssaal.
Es ist kurz vor 18 Uhr, beinahe acht Stunden sitzen sie bereits zusammen, da schießt Geißler seinen Pfeil ab. Gerade ist es besonders heftig hergegangen, sein spezieller Freund Rockenbauch will mit den Aktionsbündnis-Leuten die Runde sprengen ("Wir ziehen uns zu Beratungen zurück"), als der Schlichter nochmals um Aufmerksamkeit bittet. Ihm sei klar geworden, "dass ein Konsens offenbar nicht möglich ist", sagt er. "Ich habe eine Bitte." Vielmehr ist es ein Vorschlag, der auf 16 Seiten zusammengefasst dann auch umgehend verteilt wird. "Frieden in Stuttgart" ist auf dem Papier zu lesen. Und darunter: "Eine Kompromiss-Lösung zur Befriedung der Auseinandersetzung um Stuttgart 21".
Geißler hat, in aller Heimlichkeit, gemeinsam mit den Experten vom Schweizer Gutachterbüro SMA eine mögliche Lösung des Bahnhofstreits erarbeitet. "Ein typischer Geißler", wird Bahn-Vorstand Volker Kefer kurz darauf in einem Fernseh-Interview sagen. "Ich bin völlig verblüfft." So wie fast alle im Saal. Für eine halbe Stunde wird die Sitzung unterbrochen.
Die Idee von Geißler und SMA kombiniert den von der Bahn angestrebten Tiefbau mit der von den Gegnern propagierten Weiterentwicklung des jetzigen Kopfbahnhofs. Es ist keine neue Idee, sie wurde bereits in den neunziger Jahren in Stuttgart diskutiert, sofort ist von möglichen Schwächen dieses Kombi-Bahnhofs die Rede. Was würde mit den bisherigen Planungen, den Kosten? Geißlers Plan enthält viele Fragezeichen. Aber er könnte auch das Zeug haben, den Konflikt zu befrieden.
Die Bahn lehnt ab, die S21-Gegner taktieren
Denn die Stimmung in Stuttgart ist angespannt. Was im vierten Stock mehr oder weniger diskutiert wird, ist unten auf dem Marktplatz auf einer Großleinwand zu verfolgen, dank der Live-Übertragung des TV-Senders "Phoenix". Hunderte S21-Gegner sind schon am Morgen gekommen, hinten haben sie einen alten olivgrünen Wasserwerfer auffahren lassen. Die selbstgemalten Plakate tragen witzige Sprüche, es gibt K21-Apfelsaft, aber viele der Protestierer wirken auch ziemlich bitter. "Stuttgarter geben nicht auf", ist auf einem gelben Banner hinter dem schon halb abgerissenen Nordflügel des Bahnhofs zu lesen.
Wenn oben jemand von den Befürwortern spricht, geht vier Stockwerke tiefer ein ohrenbetäubendes Rasseln, Trommeln und Hupen los. Selbst durch die geschlossenen Fenster im Sitzungssaal ist das gut zu hören. Und immer wieder die Rufe: "Lügenpack, Lügenpack."
Die Bahn hat den Geißler-Vorschlag prompt abgelehnt. Auch die SPD - Koalitionspartner der Grünen von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Befürworter von S21 - äußerte sofort große Skepsis. Aber das dürfte vor allem taktische Gründe haben. Nicht das Gesicht verlieren, heißt die oberste Devise. Genauso taktisch begründet ist wohl die nur vorsichtig-positive Reaktion der Grünen. Man werde Geißlers Vorschlag prüfen, sagte Verkehrsminister Winfried Hermann: Nur nichts überstürzen und den Koalitionspartner vor den Kopf stoßen.
Natürlich ist offen, wie ernst es Geißler selbst mit seinem Vorschlag meint. Vielleicht war es auch nur der Versuch, endgültig mit einem "reinen Gewissen" (O-Ton Geißler) aus der Schlichtung zu gehen. Nach dem Motto: Ich habe ja alles versucht.
Jedenfalls hat Geißler, der alte politische Fuchs, begriffen, dass S21 tiefer in der Sackgasse steckt als je. Der Bahn, das räumte Vorstand Kefer ein, ist das sonnenklar, der Landesregierung sowieso. Sollte es zu der geplanten Volksabstimmung kommen, prophezeit Geißler, "wird das ein fürchterlicher Wahlkampf".
Vielleicht lohnt es sich doch, den Kombi-Vorschlag nochmals in Ruhe zu studieren. Für beide Seiten.