Kommentar Flucht und Fliehkräfte
In Berlin haben heute die Parteien der Großen Koalition zusammen knapp über 50 Prozent der Stimmen erhalten. Die andere Hälfte der Wähler hat sich für politische Formationen entschieden, die den Anspruch auf ein verbindendes Volksparteiprogramm erst gar nicht mehr erheben. Allein 14 Prozent gingen an der Spree an die so genannten "Anderen": Senioren, Rechtsextremisten, Sozialutopisten - willkommen in der Parallelgesellschaft.
Dieser Ego-Trip der Wähler hat auch etwas mit der Sehnsucht nach politischer Identifizierbarkeit zu tun, die man bei der Großen Koalition im Bund so schmerzlich vermisst. Eine Regierung, die sich als zahnloses Bündnis geriert, in der die politische Positionierung zu Sachfragen wie der Gesundheitsreform inzwischen reine Glücks- oder Ländersache ist, muss sich nicht wundern wenn Links und Rechts die Polkappen schmelzen.
Die Große Koalition in Berlin hat diesen Trend zur politischen Vereinzelung und Vereinsamung nicht erzeugt, aber sie beschleunigt ihn. Wohin diese Entwicklung führt, ist noch völlig unklar, aber zukunftsfrohe Zuversicht ergreift einen angesichts des schmelzenden Kitts in der Gesellschaft nicht gerade.
Ranküne und Partikularinteressen
Deshalb drehen wir die Uhren lieber einen Moment zurück und nehmen an, Bundeskanzler Gerhard Schröder hätte am Abend des 22. Mai 2005 die Nerven behalten, ein paar Flaschen Barolo getrunken und darauf verzichtet, Neuwahlen anzukündigen. Dann wäre heute Abend ein sehr, sehr langer Bundestagswahlkampf zu Ende gegangen. Die amtierende Regierung Schröder/Fischer hätte sich kraftlos durch das vergangene Jahr gemogelt, es hätte vermutlich keine tiefgreifenden Reformen mehr gegeben. Der Kanzler wäre immer stärker aus dem eigenen Lager unter Druck gesetzt worden.
Dummerweise trifft diese fiktive Bilanz auch für die Große Koalition zu. Das Problem fängt schon beim Namen an. Regierung Merkel/Müntefering? Das wird nicht reichen, da fehlen ein Dutzend Namen. Selten waren Partikularinteressen und Ranküne größer in einer bundesdeutschen Regierung als heute. Die Wähler mit ihrer Vorliebe für Single-Issue-Politik vollziehen nur nach, was die Berliner Granden ihnen vormachen.
Wer, wie Kanzlerin Merkel, eine historische Wende ankündigt und dann Locken auf der Glatze dreht, dem glaubt man eben nicht mehr. Sicher, sie stand heute Abend nicht zur Wahl. Aber die so genannten Volksparteien - Merkel steht einer vor - waren ins Rennen gegangen, und sie sind abermals gefleddert worden. Dass die alten Bindungen und politischen Loyalitäten schwinden, ist kein Naturgesetz. Doch die großen Parteien lassen es hilflos geschehen.
Die CDU - ein Gespenst aus West-Berlin
Die Wählerflucht und die soziopolitischen Fliehkräfte sind stärker denn je. Die Union hat heute in Berlin schlechter abgeschnitten als die PDS vor vier Jahren. Sie ist mit diesem Resultat - knapp über 20 Prozent - nur noch eine magere, gespenstische Erscheinung des alten West-Berlin. Mit den neuen Verhältnissen in der Stadt kommen die Konservativen einfach nicht zurecht.
Die SPD verlor in Mecklenburg-Vorpommern zehn Prozent, denn wer regiert, wird im Osten gern bestraft. Das musste auch die PDS erfahren. Die Linke, die in Ost-Berlin so etwas wie Volksparteicharakter besitzt, wurde dort vom Wähler gerupft: 20 Prozent weniger im Ost-Berliner Stammland. Wundert es jemand, dass gleichzeitig die Wahlbeteiligung sinkt?
Angesichts der fortschreitenden Parzellisierung der politischen Landschaft stellt sich im Bund längst nicht mehr die Frage, was die derzeitige Regierung noch zu Wege bringen kann. Bedeutsamer ist inzwischen, was eigentlich nach dieser Episode kommen soll. Längst wird geampelt und geschwampelt, bisher nur in der Theorie. Die experimentelle Praxis aber bestand in den Koalitionen von SPD und PDS. Bündnisse mit den Postkommunisten waren lange umstritten, heute regen sie kaum noch jemanden auf. Und sogar die sozialdemokratische Schutzbehauptung, Koalitionen mit der PDS würden die Protestpartei schließlich entzaubern, scheint zumindest heute Abend in Berlin zu stimmen. Man darf gespannt sein, was die PDS daraus für Konsequenzen ziehen wird.
Einen Weg zurück in die Fundamentalopposition der Länder kann es für die PDS kaum geben. Dafür ist sie zu schlau. Die künftige Zusammensetzung des Berliner Senats und die Regierung in Schwerin sind bei weitem keine regionalen Angelegenheiten. Die rot-roten Regierungen sind, bei allen Dementis, Machtoptionen im Bund. Die Koalition mit der PDS ist das wichtigste Kapital des SPD-Senkrechtstarters Wowereit. Er und Ringstorff würden gern so weiter machen wie bisher - trotz seriöserer Alternativen. Aber Seriösität ist in der deutschen Politik inzwischen eine eher nebensächliche Kategorie. Womit wir wieder bei den Ursachen von Parallelgesellschaften wären.