Kommentar Koalition ohne Geist
Jeder, der je in seinem Leben einen Text geschrieben hat, kennt das Phänomen: Es ist nie ein gutes Zeichen, wenn einem keine Überschrift einfällt zu einem Text und kein guter erster Satz.
Denn der Grund ist meistens ganz schlicht, dass man seine Gedanken nicht geordnet hat, keine Idee davon, was die folgenden Seiten und Kapitel zusammenhalten soll. Man hat einfach etwas aufgeschrieben: uninspiriert, unstrukturiert, einfallslos.
Steht hingegen die Überschrift, der Vorspann und der erste Satz, dann fügt sich die Struktur wie von selbst. Weil dem Text eine Idee zugrunde liegt. Oder einfacher gesagt: Weil der Autor weiß, was er will.
Deshalb ist der Koalitionsvertrag der neuen Regierung ein Spiegel ihrer leeren Seele. Wochenlang suchten die Politphilosophen im Kanzleramt nach dem einen Satz, der einen Überschrift, der einen Idee, für die sich diese Koalition aus Wunschpartnern zusammengefunden hat.

Nach dem Schlusspoker: Schwarz-Gelb präsentiert sich gelöst
Es muss ja nicht gleich der Weltgeist sein, den Hegel überall suchte und gelegentlich fand. Ein Koalitionsgeist würde schon reichen.
Aber was haben wir stattdessen? Eine selbsternannte Kanzlerin aller Deutschen und eine "Koalition der Mitte", wie es der angehende Kanzleramtsminister Ronald Pofalla noch in der Nacht von Freitag auf Samstag hilflos formulierte. Am folgenden Morgen behauptete Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Bundespressekonferenz dann, man gehe "mutig in die Zukunft", man habe "die Kraft zum Mut".
Kraft? Mut? Zukunft? Diese neue Regierung weiß nicht, wofür sie da ist, was sie mit der Macht anfangen soll, die ihr das Volk bei der Bundestagswahl zugedacht hat.
Nach drei Wochen Koalitionsverhandlungen ist es nicht freundlicher zu formulieren: Dieser Start ist misslungen, inhaltlich, personell, ideell. Es ist überhaupt nichts von einer Aufbruchstimmung derjenigen zu spüren, die sich lange gesucht und endlich gefunden haben.
Die Kanzlerin hat diese Koalitionsverhandlungen laufen lassen
Angela Merkel hat es versäumt, dieser neuen Regierung ihre Handschrift zu geben. Sie hat diese Koalitionsverhandlungen nicht geführt, sondern laufen lassen. Es ist das zweite Mal, dass sie hier enttäuscht. Als sie die Koalition mit der SPD eingegangen ist, hat sie dieses Versäumnis damit erklärt und gerechtfertigt, dass sie es in der Großen Koalition mit einem beinahe gleich großen Partner zu tun hat.
Aber auch jetzt in einer Koalition mit dem kleineren Partner FDP bleibt Merkel ihrem defensiven Führungsstil treu. Sie macht keine Politik, sondern Mathematik. Im Mittelpunkt steht der Kompromiss, nicht das Wohl der Sache. Diesem Politikstil ist schon der fürchterliche Gesundheitsfonds geschuldet, der zwei unversöhnliche Systeme versöhnen sollte und der zunächst einmal fortgeschrieben wird.
Das nächste zusammenmontierte Merkel-Monster hat das Labor der Bundeskanzlerin schon verlassen. Wer aus dem Abschied von der Wehrpflicht (FDP) und dem Festhalten an dieser Wehrform (Union) den Kompromiss von sechs Monaten Rest-Wehrpflicht macht, der hat nicht das Wohl der Armee, sondern nurmehr die Arithmetik der Koalition im Blick. Sechs Monate Wehrpraktikum.
Bei diesem Kompromiss rollt jeder General und jeder Kompaniefeldwebel die Augen, weil dieser Kompromiss die schlechteste aller Lösungen ist: Sechs Monate Wehrpflicht, das bedeutet für die Bundeswehr: nur noch Arbeit, kaum mehr Nutzen durch die Rekruten. Diese Vereinbarung ist praxisfern und großer Unsinn. Sie ist der Gesundheitsfonds der deutschen Streitkräfte.
Ebenso banal und unpolitisch mathematisch ist Merkel mit FDP-Chef Guido Westerwelle und CSU-Chef Horst Seehofer im Ringen um die Steuerentlastungen vorgegangen. Sie hat nicht entschieden, ob Steuersenkungen richtig oder falsch sind in dieser Situation. Stattdessen hat sie aus den 15 Milliarden Entlastungsvolumen der CDU und den 35 Milliarden der FDP mehr oder minder die Mitte gesucht und 24 Milliarden Euro vereinbart.
Noch einmal: Das ist Mathematik, dritte Klasse Grundschule, aber keine hohe Politik.
Die Verhandlungen dieser Koalition aus Union und FDP erinnern auf fatale Weise an jene geistlose Veranstaltung, die Rot-Grün nach der Wiederwahl 2002 abgezogen hat. Damals standen die Verhandlungen unter dem unseligen Diktat eines Finanzministers Hans Eichel, der immer mit seiner Sparliste wedelte und jeden kreativen politischen Gedanken im Keim erstickte, bis viel zu spät Bundeskanzler Gerhard Schröder Eichel anraunzte: "Hans, jetzt lass mal gut sein!"
Das neue Kabinett ist ein Spiegel der Einfallslosigkeit
Déjà-vu 2009: Merkel hat es zugelassen, dass die Verhandlungen über ihre zweite Legislatur die ganze Zeit unter dem Steuersenkungsdiktat vor allem der FDP, aber auch der CSU standen. Sie hat nie gesagt: "Guido, jetzt lass aber mal gut sein!" Alles drehte sich nur um dieses Thema und erstickte jede Kreativität.
Das neue Kabinett ist ebenso ein Spiegel der Einfallslosigkeit und Konfliktscheu wie der Koalitionsvertrag. Aufbruch, Mut? Deutschland ist am Freitagabend im 21. Jahrhundert ins Bett gegangen und am Samstag im 20. Jahrhundert aufgewacht. Es ist, als seien die Figuren aus der Gesteinsschicht des deutschen Kohlozäns wieder auferstanden. Leutheusser, Schäuble, Westerwelle, Brüderle - man fühlt sich wie in Steven Spielbergs Jurassic Park, daran ändert auch der Umstand nichts, dass dank des 36-jährigen Philipp Rösler der Altersschnitt des Kabinetts gesenkt wurde. Es gibt auch junge Dinosaurier.
Und wie bei den Inhalten bestimmte auch beim Personaltableau die Koalitionsbalance und der Koalitionsfrieden - nicht die Sache - das Handeln. Schwache Minister wie Annette Schavan oder Franz Josef Jung wurden nicht ausgewechselt, sondern allenfalls verschoben.
Es ist kein Wunder, dass Horst Seehofer und Guido Westerwelle so fröhlich und dominant bei der gemeinsamen Pressekonferenz am Samstagvormittag aufgetreten sind. Sie und nicht Angela Merkel haben diesem Koalitionsvertrag, diesem Start der neuen Regierung ihren Stempel aufgedrückt. Angela Merkel bleibt Kanzlerin. Schön für sie. Sie hat es aber versäumt, in einem entscheidenden Moment ein Exempel zu statuieren und ihren Führungsanspruch gleich zu Anfang zu manifestieren. Das ist ein schwerer Fehler, an dessen Folgen sie vier Jahre lang leiden wird.
Es gibt Versäumnisse, die lassen sich nicht mehr ausräumen.