Kommentar zur Euro-Abstimmung Die gedopte Koalition
Zunächst einmal muss man sagen: Angela Merkel traut sich was, sie übernimmt im Euro-Chaos Führung. Natürlich ist Führung ihre vornehmste Aufgabe als Kanzlerin. Gleichwohl ist es ihr und ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble als Verdienst anzurechnen, dass sie nun im Bundestag für ihren Kurs eine so große Gefolgschaft gefunden haben.
Es war keine Selbstverständlichkeit, dass sie die Kanzlermehrheit erzielen, jene magische Marke, die immer noch als Ausweis der Autorität eines Regierungschefs gilt.
Mehrheiten im Bundestag
Seit Wochen wird über die Zahl der Abweichler in der schwarz-gelben Koalition bei der Abstimmung über den erweiterten Euro-Rettungsschirm spekuliert. Sicher ist, dass am Donnerstag nicht alle Abgeordneten aus Union und FDP das Vorhaben unterstützen werden. Ab wann es allerdings kritisch werden könnte für die Koalition, ist umstritten. Die Opposition verlangt die sogenannte Kanzlermehrheit, die Koalition selbst hat die Erwartungen gesenkt und will nur noch "eine eigene Mehrheit". Die Zustimmung im Bundestag gilt ohnehin als gesichert, da auch Teile der Opposition für das Gesetz stimmen wollen.
Der Begriff bezeichnet eine absolute Mehrheit aller Mitglieder des Bundestages, die mit den Stimmen der Regierungskoalition erreicht wird. 620 Abgeordnete gehören derzeit dem Bundestag an, die absolute Mehrheit liegt daher bei 311 Stimmen. Da Schwarz-Gelb 330 Sitze hat, dürften höchstens 19 Abgeordnete des Regierungslagers ihre Zustimmung verweigern. Erforderlich ist die Kanzlermehrheit allerdings nur bei der Kanzlerwahl, der Vertrauensfrage und der Zurückweisung eines Einspruchs des Bundesrates bei nicht zustimmungspflichtigen Gesetzen.
In der Regel ist die einfache Mehrheit ausreichend, um ein Gesetz zu verabschieden. Sie ist dann erreicht, wenn ein Gesetz mehr Ja- als Nein-Stimmen erhält. Enthaltungen werden ebenso wie nicht abgegebene oder ungültige Stimmen gewertet. Werden also beispielsweise nur 610 gültige Ja- und Nein-Stimmen abgegeben, liegt die einfache Mehrheit bei 306. Bedeutsam wird dies, wenn Abgeordnete etwa aus Krankheitsgründen der Abstimmung fernbleiben. Der Vorsprung der Koalition ist komfortabel. Mit 330 Stimmen verfügt sie über 40 Stimmen mehr als die Opposition, die auf 290 Mandate kommt. Theoretisch dürften sich also 39 Koalitionspolitiker enthalten oder der Abstimmung fernbleiben, wenn der Rest der Koalition mit Ja stimmt. Maximal 19 dürften dagegen stimmen, wenn alle anderen anwesend sind. Geben alle Abgeordneten ihre Stimme ab und gibt es keine Enthaltungen, entspricht die einfache Mehrheit der absoluten oder Kanzlermehrheit.
Im Bundestag gibt es in der Regel nur zwei Abstimmungsoptionen, Ja oder Nein. Damit ist die einfache Mehrheit im Bundestag identisch mit der relativen Mehrheit. Grundsätzlich gilt bei der relativen Mehrheit aber, dass die Option mit den meisten Stimmen "gewinnt". Bei drei oder mehr Abstimmungsoptionen muss dies nicht zwangläufig die einfache Mehrheit sein. Dieser Fall könnte beispielsweise bei der Wahl des Bundeskanzlers eintreten, wenn sich mehrere Kandidaten zur Wahl stellen und keiner der Kandidaten in den vorherigen Wahlgängen die absolute Mehrheit erreicht.
Das Votum hat also gute Seiten. Die angeschlagene Koalition wirkt plötzlich erfreulich munter, fast wie gedopt. Auch der Euro profitiert: Endlich ist ein wenig Ordnung erkennbar in diesem Schulden-Durcheinander. Es wird eine Möglichkeit sichtbar, die aus der Krise führen könnte. Der Euro-Rettungsschirm mit Milliarden-Bürgschaften ist das erste durchdachte, demokratisch legitimierte Instrument zur Rettung von Pleitestaaten in der Euro-Zone. Spät kommt er, aber er kommt.
In der Politik geht es vor allem um Vertrauen. Den Abgeordneten des Bundestags, die nur in seltenen Fällen Finanzexperten sind, geht es wie den Bürgern: Sie vertrauen darauf, dass Merkel, Schäuble und alle ihre Experten die Probleme kompetent lösen. Sie müssen darauf vertrauen. Nachhaltig überzeugt sind sie davon nicht. Der Schirm erscheint als das kleinste Übel. Deshalb hat auch die Opposition zugestimmt. Eine bessere Lösung fällt SPD und Grünen derzeit eben auch nicht ein.
Aufbruch ins Ungewisse
Natürlich wäre es schön, wenn nun in Sachen Euro und in der Koalition endlich ein wenig Ruhe einkehren würde. Aber ist das wirklich realistisch?
Niemand weiß, ob der nun beschlossene Rettungsschirm wirklich den Euro rettet. Auch Merkel und Schäuble wissen das nicht. Sie wissen auch nicht, ob die deutschen Bürgschaften in Höhe von 211 Milliarden Euro irgendwann für immer futsch sein werden. Oder ob die Rettung Europas uns womöglich noch weit mehr Geld kosten wird. All dies ist völlig offen.

Neue Erschütterungen des Euro-Raums können neue schwierige Entscheidungen nötig machen - und damit auch neue Unruhe in die Koalition tragen. Sowohl die CSU als auch die FDP sind hochnervöse Partner, die Merkel in die Zange nehmen. Etliche Minister dieser Regierung sind immer wieder gut für völlig überflüssige und unvorhergesehene Störmanöver. Vor allem vor den nächsten Landtagswahlen. Warum sollte sich daran nun plötzlich etwas ändern?
Die Opposition setzt auf Blockade
Hinzu kommt eine quicklebendige Opposition. Die scheinbare Eintracht im Bundestag bei der Abstimmung über den Rettungsschirm wird eine Ausnahme bleiben. SPD und Grüne haben offenkundig vor, die Koalition über ihre Mehrheit im Bundesrat immer wieder vorzuführen. Gut möglich, dass diese Koalition schon bald keines ihrer sonstigen Vorhaben mehr wird verwirklichen können.
Plötzlich hat die SPD sogar einen Fast-Kanzlerkandidaten, der zum Angriff bereitsteht. Im Bundestag gab Peer Steinbrück bei der Debatte über den Rettungsschirm quasi seinen Einstand als Merkels Widersacher. Auch wenn sein Auftritt eher mittelprächtig war. Es war an den Buh-Rufe aus der Regierungskoalition doch zu spüren, welche Nervosität er dort auslöst.
So ist das eben beim Doping: Die Koalition sollte den Kick dieses Tages auskosten, er wird nicht ewig währen.