
Streit und Selbstdemontage Bye-bye, Piratenpartei
- • Umfrage: Union legt trotz Schavans Plagiatsaffäre kräftig zu
- • Vorstandsstreit bei den Piraten: Basis soll Ponader absägen
Berlin - Eins, zwei oder drei? Der Titel einer Kinder-Quizshow taugt hervorragend als Kernfrage der Piratenpartei. Dort geht es auch nur noch um eins, zwei oder drei - und zwar Prozent. Niemand rechnet mehr damit, dass im Herbst eine Revoluzzer-Fraktion in Orange in den Bundestag einziehen wird.
Zu Recht. Noch bevor der Wahlkampf begonnen hat, kann man die Piraten als bundesweite Kraft abschreiben. Diese Analyse ergibt sich nicht etwa aus stumpfer Umfragehörigkeit. Längst geht es nicht mehr um wöchentliche Demoskopie-Orakel, ums "Dümpeln", "Absaufen", "Dahinsiechen".
Das Problem ist ein anderes: Keine Partei zelebriert ihre Selbstdemontage so offen und öffentlich, so aggressiv, so tragisch wie diese. Und das Publikum wendet sich mit Grauen von dem Schauspiel ab.
Die internen Machtspiele der vergangenen Tage sind der letzte Beweis dafür, dass die Piraten mit Verantwortung nicht umgehen können - und dass sie das Wahljahr unter "ferner liefen" bestreiten werden. Der Zoff um den "Sandalenpiraten" Johannes Ponader erreichte am Dienstag seinen vorläufigen Höhepunkt. Der umstrittene Geschäftsführer wurde mit einer Online-Umfrage zu möglichen Vorstandsneuwahlen überrumpelt. Prompt drohte er mit Rückzug, um einem möglichen Negativ-Votum zuvorzukommen. Noch am Abend distanzierte sich mit den Saar-Piraten ein ganzer Landesverband in einer Erklärung von Ponader. Ausgerechnet der Landesverband, der den Piraten einst zum bundesweiten Durchbruch verhalf.
Blutige Füße, machtlose Talente
Man kann der Partei dabei zusehen, wie sie auf ihrem eigenen Scherbenhaufen herumspringt und sich dabei noch einmal ordentlich die Füße blutig ritzt. Selbst loyale Parteimitglieder reagieren angesichts der neuesten Volten fassungslos. Gegen die Piraten wirkt selbst die erodierende FDP wie eine echte Solidargemeinschaft.
Dabei gibt es Piraten, denen man politische Gestaltungskraft zutraut. Udo Vetter, ein renommierter Jurist mit Netzkompetenz, der für Nordrhein-Westfalen in den Bundestag will. Oder Anke Domscheit-Berg, frühere Grüne mit Expertise in Open-Government-Fragen. Auch Martin Delius, Vorsitzender des Flughafen-Ausschusses in Berlin, und Michael Hilberer, der besonnene Fraktionschef in Saarbrücken, gehören dazu.
Auffällig ist: All diese Piraten gelten als seriöse Realo-Politiker - aber vor allem als prominente Kritiker ihrer eigenen Leute. Sie werden auch deshalb von außen ernstgenommen, weil sie sich in zentralen Punkten von den Bundespiraten verabschiedet haben. Gibt es ein stärkeres Alarmsignal für eine Partei? Wohl kaum.
Als fähige Köpfe galten auch einmal Christopher Lauer und Marina Weisband. Der eine, Fraktionschef in Berlin, kämpft mit Vorwürfen, er habe Ponader per SMS erpresst. Die andere hat sich für Hintergrundarbeit entschieden, bringt bald ein Buch heraus, will aber kein Amt mehr übernehmen.
Am Mittwoch wurde Lauer in einem Radiointerview gefragt, was an den Erpressungsgerüchten dran sei. "Ich wüsste nicht, warum man das um 8.20 Uhr morgens im Deutschlandfunk diskutieren sollte", pampte Lauer den Moderator an. Souverän ist anders. Erwachsen auch.
Zwei Millionen Stimmen, das ist utopisch
Szenen wie diese zeigen, wie blank die Nerven in der Partei liegen, wie ratlos selbst der engste Führungszirkel ist, wenn es darum geht, die desaströse Lage in den Griff zu kriegen. Das Rezept der selbsternannten Transparenzpartei lautet: abtauchen. Spitzenpiraten gehen seit Tagen nicht ans Telefon, einfache Nachfragen werden abgeblockt oder auf mauernde Sprecher ausgelagert. Die Partei, die den Politikapparat einmal umkrempeln wollte, ist nun da, wo sie nie sein wollte - verschanzt hinter einer Wand aus Worthülsen, zerstritten, frei von Glaubwürdigkeit, ohne stabile Anhängerschaft.
Bei der letzten Bundestagswahl brauchte eine Partei rund 2,2 Millionen Stimmen, um in den Bundestag einzuziehen. Dass die Piraten im Herbst zwei Millionen einsammeln werden, ist utopisch. Wovon sollten diese zwei Millionen Menschen begeistert sein? Die vielgelobte Authentizität gibt es nicht mehr. Parteichef Bernd Schlömer und sein Kontrahent Ponader inszenierten sich erst als Tandem, um sich anschließend in Kleinkriegen zu beharken. Und wenn es schon nicht die Köpfe sind, welche Inhalte sollten überzeugen? Selbst bei Kernthemen wie Grundeinkommen, Datenschutz und Urheberrecht kann sich die Partei seit Ewigkeiten nicht auf eine Strategie einigen.
Eine Partei, die sich ernsthaft und innovativ mit den Herausforderungen des digitalen Wandels beschäftigt, hätte einen festen Platz in der politischen Landschaft verdient. Die Piraten sind nicht diese Partei. Nicht mit dieser Führungsmannschaft, nicht mit diesem Selbstzerstörungstrieb.
So scheint die Prognose klar: Die Piraten werden nach der Bundestagswahl vielleicht nicht verschwinden, aber lediglich als Bewegung und Regionalphänomen weitermachen. Vielleicht erwächst daraus etwas Neues. Doch fürs Erste ist diese Partei gescheitert.
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Parteimitglieder im Bällebad: Die Piraten machen weiter - die Perspektiven sind allerdings mies. Schlechte Umfragewerte und ein zerstrittenes Spitzenpersonal lassen einstige Anhänger ratlos zurück.
Das Problem: In Kernfragen können sich die Piraten nicht einigen.
Auch der Politische Geschäftsführer Johannes Ponader ist eine Reizfigur, er zofft sich regelmäßig mit seinen Vorstandskollegen, sorgt mit fragwürdigen Auftritten für Furore.
Piratenmitglieder beim Parteitag: 2012 war das Jahr des Höhenflugs und Mitgliederansturms, der Querelen und Blamagen. Die Aussichten für einen Einzug in den Bundestag sind inzwischen schlecht.
Ob sich die Piraten dauerhaft etablieren können, wird immer fraglicher - doch in den vergangenen zwölf Monaten haben sie die politische Kultur und Parteienlandschaft ordentlich aufgemischt.
Wer zur Hölle sind diese Typen? Das fragten sich am Berliner Wahlsonntag des 18. September 2011 viele Menschen. Den Piraten - hier eine Auswahl der Fraktion in der Hauptstadt - gelang mit knapp neun Prozent der Einzug ins Abgeordnetenhaus.
"Erfrischend", "authentisch" - die Kommentare überschlugen sich mit verblüfften Einschätzungen: Die Piraten (im Bild die Berliner Abgeordneten Andreas Baum und Christopher Lauer) hatten ein Zeichen für die Generation Netz gesetzt, boten sich als junge Alternative zu den etablierten Parteien an.
Studenten, Software-Entwickler, Lehrer - den Abgeordneten der Piraten (im Bild der Berliner Parlamentarier Simon Kowalewski) ist die klassische Ochsentour, wie sie in anderen Parteien durchlaufen wird, fremd. Das macht sie volksnah. Doch mit den Freibeutern zog auch eine gute Portion Dilettantismus in die Parlamente ein.
Parteitag in Offenbach im Dezember 2011: Das Treffen war der erste Versuch, große Politik im Fokus der Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit zu machen.
In Offenbach beschlossen die Piraten, das bedingungslose Grundeinkommen in ihr Programm aufzunehmen. Die Entscheidung fiel knapp, das Thema sorgt immer noch für Zündstoff.
Die Partei plagt Frauenmangel - und plötzlich zauberten die Piraten sie aus dem Hut: Marina Weisband wurde zum Star der Partei. Sie konnte leidenschaftlich und überzeugend für die Piraten werben und wurde Dauergast in den Talkshows der Republik.
Ein paar Monate später legte sie ihr Amt nieder. Sie wolle ihr Diplomarbeit schreiben und wirkte ausgebrannt. Eine Kandidatur für den Bundestag hat sie mittlerweile ausgeschlossen.
Wahlsieg in NRW am 13. Mai 2012: Die Piraten meistern die Neuwahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Düsseldorf mit Bravour und etablieren sich als sechste Kraft im Parteienfeld.
Auf dem Bundesparteitag im April in Neumünster wählen die Piraten eine neue Spitze: Bundesvorsitzender wurde Bernd Schlömer: nüchtern, realistisch - und Beamter im Verteidigungsministerium
Und alle so Yeah! Auf dem Höhepunkt des Piraten-Höhenflugs landet die Partei im April und Mai in Umfragen bei 12, 13 Prozent. Danach geht es wieder bergab für die Newcomer.
Schlagzeilen machen die Piraten im Frühjahr mit radikalen Äußerungen von Problemmitgliedern und seltsamen NS-Vergleichen. Selbst der sonst so besonnene parlamentarische Geschäftsführer der Berliner Fraktion, Martin Delius, vergleicht den Aufstieg der Piraten mit jenem der NSDAP.
Für Wirbel sorgt immer wieder das Verhältnis zur Presse. Auf dem Parteitag der niedersächischen Piraten im Juli steckt die Partei eine private Zone ab, in der nicht gefilmt werden darf. Aufnahmen sind nur in der "Mixed Zone" erlaubt.
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