Kompromissvorschlag zu Stuttgart 21 Von allen guten Geißlern verlassen

Stuttgart-21-Gegner: Neue, unbegründete Hoffnung auf einen Kompromiss
Foto: Marijan Murat/ dpa"Was ist das für ein Land, in dem etwas Unnötiges und Unsinniges gebaut werden soll, nur weil vor vielen Jahren durch Lug und Trug Verträge unterschrieben wurden? Ich glaube, inzwischen lacht schon jede Bananenrepublik über uns", schreibt die Stuttgarterin Katharina Georgi am Samstag verbittert in einem Brief auf der Website des Aktionsbündnisses Parkschützer. Tatsächlich könnte man sich im Ausland mittlerweile fragen, was im Musterländle der Ingenieurskunst eigentlich los ist. Und zwar nicht nur in den "Bananenrepubliken", die sich darüber amüsieren könnten, dass auch das brave Deutschland nicht vor Obrigkeitswillkür und Korruption gefeit ist. Welches Land ist das schon?
Nein, auch in den USA, wo sich die politischen Lager in Repräsentantenhaus und Kongress dieser Tage im Streit um die Staatsschulden fast ebenso erbittert gegenseitig blockieren, wie es seit Monaten die Befürworter und Gegner des Bahnhofsneubaus in Stuttgart tun, gäbe es wohl Gelächter, dränge die Nachricht vom deutschen Bahnhofszwist bis über den Atlantik. Denn dort geht es allen politischen Ränkespielen zum Trotz immerhin um die drohende Zahlungsunfähigkeit der gesamten Nation.
Auch in den europäischen Krisenländern Griechenland, Spanien und Italien stellt man sich wirtschaftlich existentiellere Fragen. In Deutschland aber geht es uns wirtschaftlich so gut, dass ein milliardenschwerer Bahnhofsbau die Infrastruktur verbessern soll, weil das alte Gebäude den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. Doch das Ringen um ein Fortschrittsprojekt in einer mittelgroßen deutschen Stadt wird zur Metapher für gesellschaftliche Unbeweglichkeit und eine tiefe Krise der Demokratie.
Geht es noch schwieriger und langwieriger?
Da wirkte es fast wie Hohn, dass Heiner Geißler, 81, der zum Moderator berufene Christdemokrat, am Freitagabend zum Abschluss der mehrstündigen Sitzung zur Präsentation des Stresstests für den geplanten Bahnhof sagte, es habe im Verlauf des Schlichtungsprozesses totale Transparenz und eine neue Form der direkten Demokratie gegeben. Die Schlichtung sei ein "Prototyp" für jede künftige Auseinandersetzung mit Großprojekten, so Geißler.
Das könnte man fast schon als eine Drohung verstehen. Er selbst stehe zwar für weitere Vermittlungsgespräche zur Verfügung, gehe nun aber erst einmal "in die Berge und schreibe ein Buch" - die Streithähne in Stuttgart sind also nun von allen guten Geißlern verlassen. Zuvor hatte der Schlichter die Diskussionsrunde im Stuttgarter Rathaus mit einem Paukenschlag beendet, indem er überraschend einen Kompromissvorschlag präsentierte: eine Kombination aus bestehendem Kopf- und neu zu bauendem Tiefbahnhof statt Abriss der existierenden Anlage zugunsten eines rein unterirdischen Durchgangsterminals, wie von der Bahn mit "Stuttgart 21" geplant ( PDF des Geißler-Vorschlags hier).

Er habe nicht den Raum verlassen wollen ohne den Versuch, doch noch eine Kompromisslösung in dem "verbitterten" Streit zu finden, sagte Geißler, doch die Frage ist, ob er mit seinem Kombi-Vorschlag nur sich selbst friedvoll in den Urlaub verabschiedet hat, während die gegnerischen Parteien in Stuttgart dank ihm nun neues Futter für eine Fortsetzung ihres zermürbenden Zwistes erhalten haben, dessen Ende inzwischen wohl alle Beteiligten erschöpft herbeisehnen. Den guten Willen mag man dem greisen Polit-Schlitzohr nicht absprechen, doch mit seiner Volte am Freitagabend könnte sich der Schlichter sogar unfreiwillig zum Streithammel gewandelt haben.
Die Idee, den Kopfbahnhof für den Regionalverkehr zu erhalten und den Durchgangsverkehr der Langstreckenzüge unter die Erde zu legen, ist beileibe nicht neu. Schon im Jahr 1995 wurde diese damals "Stuttgart 21 Kombi" genannte Lösung von Gegnern des S-21-Projekts in die Diskussion eingebracht, letztlich aber in mehreren Prüfverfahren, die bis vor den Verwaltungsgerichtshof gingen, wegen mangelnder Effizienz gegenüber S21 wieder verworfen. Dennoch war die - nun noch einmal modifizierte - Kombi-Lösung auch bei den von Geißler moderierten Schlichtungsgesprächen im vergangenen November noch einmal Thema - ohne Ergebnis. Bahn-Vorstand Volker Kefer sagte damals laut "Stuttgarter Zeitung", der Umbau des Bahnhofs bei laufendem Betrieb sei schwierig und langwierig. Wobei man aus heutiger Sicht erwidern könnte, dass es schwieriger und langwieriger als jetzt wohl kaum noch geht.
Paukenschlag ohne Nachhall
Denn schon fordern S-21-Gegner wie die "Parkwächter" von der Bahn einen sofortigen Baustopp, um Geißlers Vorschlag in Ruhe prüfen zu können. Die Bahn signalisierte bereits am Freitagabend, sich nicht auf Geißlers Kompromiss einlassen zu wollen. Warum auch? Den im Schlichtungsverfahren beschlossenen Stresstest hat man bestanden, welchen Grund könne es da geben, nicht mit dem Bau fortzufahren? Am Samstag versuchte der Konzern. mit der Vergabe von Bau-Aufträgen im Wert von über 700 Millionen Euro Tatsachen zu schaffen. "Wir werden völlig unaufgeregt dieses Projekt fortführen, so wie es notwendig, sinnvoll und richtig ist", sagte Kefer.
Auch auf Seiten der Bundesregierung gibt es wenig Bereitschaft, noch einmal neu zu verhandeln. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer sagte der "Passauer Neuen Presse", Geißlers Vorschlag sei "eine uralte Variante, die vor vielen Jahren bereits schon einmal verworfen wurde". Die gemeinsam festgelegten "Spielregeln müssen eingehalten werden", forderte der CSU-Politiker.
Selbst der grüne Politiker Werner Wölfle sagte der "FAZ", er hätte gedacht, Geißler schlüge Verbesserungen vor: "Dieser Vorschlag bedeutet doch alles auf Anfang." Dabei sind die erst kürzlich in Baden-Württemberg an die Macht gelangten Grünen die einzige Partei im Ländle, die eine kritische Haltung gegenüber Stuttgart 21 hegen und auf die Entscheidung der geplanten Volksabstimmung im Herbst warten wollen. Doch die Stimmung im Land ist längst gekippt, die Bevölkerung genervt vom langen Hickhack. Das hat auch der Juniorpartner der Grünen in der Regierungskoalition gemerkt. Der baden-württembergische SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel sagte der "Wirtschaftswoche", er rechne mit einer klaren Mehrheit für das Projekt, "dann können wir den Streit um Stuttgart 21 zu den Akten legen".
Geißlers Paukenschlag, so zeichnet es sich am Tag danach ab, wird wohl nur kurz nachhallen. Er habe versucht, den Streit um S21 wie einen Tarifkonflikt zu lösen, kommentiert die "Süddeutsche Zeitung" sein "Abrakadabra" vom Freitagabend, indem er in letzter Minute einen Kompromiss aus dem Hut zaubert, auf den sich alle irgendwie einigen können sollen.
Konfliktlösungen von gestern
Doch der Streit um den Stuttgarter Bahnhof ist eben mehr als ein Streit um Lohnerhöhungen, er handelt vom Willen einer Gesellschaft, sich zu bewegen und Veränderungen zuzulassen. Die Gegner von S21 wollen nicht, dass sich das traditionelle Antlitz ihrer Stadt verändert, sie kündigen den seit Beginn der Industrialisierung gültigen Konsens des Kapitalismus auf, der Unternehmer und Ingenieure in einer möglichst profitablen Investition in den technischen Fortschritt vereint. Vielleicht weil sie jetzt, zu Beginn des postnuklearen Zeitalters nicht mehr an die Verheißungen der Technik glauben wollen, vielleicht weil der Paradigmenwechsel hin zu einem im Wortsinne konservativen Bewusstsein für Umweltschutz und Nachhaltigkeit in breiten Bevölkerungsschichten längst vollzogen ist. Vielleicht weil tatsächlich auch die demografische Entwicklung und die Überalterung der Gesellschaft dabei eine Rolle spielt.
Gleichzeitig muss die Wirtschaft, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen, auch mit Großprojekten wie Stuttgart 21 immer wieder beweisen, dass sie mithalten kann, wenn es um technologische Prestige-Leistungen geht. Mit der im 20. Jahrhundert bewährten Politik des Für-jeden-etwas, die Geißler mit seinem Vorschlag verfolgt, kommt man in diesem neuen gesellschaftlichen Dilemma nicht weiter.
Auch Geißler weiß das ganz genau, denn sein düsterer Ausblick auf die Volksabstimmung und den damit verbundenen "fürchterlichen" Wahlkampf, den er am Freitagabend beschwor: "Wollt ihr den totalen Krieg?", herrschte er die S21-Gegner mit einem Zitat der berüchtigten Goebbels-Rede aus dem "Dritten Reich" an. Ein rhetorischer Fehlgriff, sicher, doch er zeigt vielleicht am deutlichsten, wie bange es dem erfahrenen Politiker Geißler um den Zustand der demokratischen Prozesse in Deutschland ist.
Die ausdauernde, teils gewaltbereite Renitenz der "Wutbürger" gegen Stuttgart 21 macht deutlich, dass das Vertrauen in die politische Willensbildung über den Umweg der politischen Parteien erschüttert ist. Man glaubt nicht mehr daran, durch Wahlen etwas bewirken zu können, also organisiert man den Protest auf der Straße, sabotiert Abbrucharbeiten, ruft "Lügenpack" vor dem Rathaus. Heiner Geißler, der diese Aktivitäten maliziös "direkte Demokratie" nennt, mag nun mit reinem Gewissen in die Berge fahren und seine überkommen Regeln der Konfliktlösung zu den Akten legen. Den Parteien im baden-württembergischen Landtag hingegen, vor allem den Grünen, die hier erstmals in der Regierungsverantwortung sind, steht ihr Stresstest um Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft noch bevor.