Konservatismus-Debatte Union ohne Kompass

Kanzlerin Merkel: Politische Orientierungswerte der Partei verflüchtigt
Foto: TOBIAS SCHWARZ/ REUTERSDie deutschen Christdemokraten taumeln. Ihr früher europaweit einzigartiger großer Rückhalt in der Bevölkerung schmilzt furios hinweg. Und die über Jahrzehnte so stabilen politischen Orientierungswerte der Partei Adenauers und Kohls haben sich ebenfalls in alle Richtungen verflüchtigt. Die Partei ist sich der eigenen Normen, Ziele und Maßstäbe nicht mehr gewiss. Die CDU ist verunsichert wie wohl noch nie in ihrer Geschichte.
Und so mehren sich die Gerüchte, dass die nunmehr heimatlos und frustriert geworden Altkonservativen auf dem Sprung zu einer neuen Partei sind.
Lange wurde die als konservative Partei bezeichnet. Doch gerade in dieser Charakterisierung liegt alles Ach und Weh der deutschen "C"-Parteien. Denn die Christdemokraten sind seit Jahren nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch konservativ sein mögen. Vor allem: Sie können weder sich noch anderen plausibel erklären, was im Jahr 2010 die Leitideen eines zeitgemäßen Konservatismus sind.
Vor allem fragten sie sich in den Jahren des fröhlichen Anything goes, mindestens still und heimlich, ob konservative Politik überhaupt noch erstrebenswert sei, auf Bedarf stoße.
Kurzum: Der Konservatismus ist in der großen Partei des deutschen Bürgertums zur Leerstelle geworden.
Natürlich, die Krise des Konservatismus der Rechten begann nicht erst mit dem Abgang von Kohl und dem Entree von Merkel. Sie liegt weit länger zurück. Schon in den gesellschaftlich aufgewühlten Jahrzehnten zwischen 1870 und 1945 hatte es der Konservatismus schwer, sich als Idee und Konzept im rechtsbürgerlichen Spektrum zu behaupten. Die Nation war jung; und auch in der Gesellschaft dominierten jahrzehntelang die jungerwachsenen Kohorten. Aus dieser Konstellation nährten sich die Massenbewegungen mit ihrem Heilsverlangen: radikale Sozialisten, wüste Nationalisten, aggressive Alldeutsche und Antisemiten, exzentrische Lebensreformer. Und so weiter.
Verstaubt, altväterlich, behäbig
Demgegenüber wirkte der Konservatismus verstaubt, altväterlich, behäbig, lahm. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war die bürgerliche Jugend nationalimperialistisch, dann radikalfaschistisch, keineswegs aber konservativ. Und da die Konservativen fürchteten, den Zug der Zeit zu verpassen und den eigenen Nachwuchs zu verlieren, wandelten sie sich der nationalen Erhebung an und verliehen ihr nach 1933 die Legitimation des traditionellen Deutschlands.
Das hatte den Konservatismus als Ideologie der deutschnationalen Rechten anhaltend diskreditiert; und das machte seither jeden Versuch der Renaissance rechts von der Mitte schwer, ja rasch zunichte.
Nun mag man einwenden, dass ja unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus die beste Zeit des Konservatismus in Deutschland während des 20. Jahrhunderts erst begann. In der Tat: Gerade die fünfziger Jahre waren das Jahrzehnt einer breiten konservativen Basismentalität.
Mentaler Konservatismus eines ruhebedürftigen Volkes
Die Deutschen waren müde, waren der Versprechen überdrüssig, zu politischen Aufbrüchen ganz und gar unwillig. Sie suchten vielmehr nach Entlastung. Deshalb überantworteten sie sich dem Patriarchen im Bundeskanzleramt, Konrad Adenauer, der Ruhe, Sicherheit, Experimentenlosigkeit und die christliche Gnade der Vergebung für schuldhaftes Verhalten versprach.
Zwei Jahrzehnte später jedoch hatte der neuliberale Einstellungswechsel in der CDU und im gewerblichen Bürgertum die altkonservativen Fundamente ins Wanken gebracht. Es waren, spätestens seit 1989, nicht die sozialistischen Feinde des Konservatismus von ehedem, welche die konservative Lebens- und Wertewelt unter Beschuss nahmen. Jetzt waren es vielmehr die Avantgardeure des wirtschaftlichen Liberalismus im bürgerlichen Lager selbst, die den überlieferten Institutionen und Bräuchen den Garaus bereiteten.
Der bürgerliche Neuliberalismus untergrub die altkonservativen Bindungen.
Der Konservatismus verliert an Boden
Natürlich: Konservatismus als politische Weltanschauung hatte es nie einfach. Der Konservatismus besaß im Unterschied zu den meisten politischen Ideologien nie ein leuchtendes Zukunftsbild. Konservative waren von politischer Natur aus Skeptiker. Ihr Credo ist der Zweifel an der Machbarkeit sozialen Wandels. Sie fürchteten den Sozialingenieur in der Rolle des Politikers, der Gesellschaften auf dem Reißbrett konstruieren wollte. Doch im Rausch der Technokratie, der Zielvereinbarungen und Lissabon-, Bologna- und sonstigen Prozesse ging ein solcher Konservatismus der skeptisch-spröden Vernunft während des letzten Jahrzehnts unter.
Und noch aus einem anderen Grund verlor der Konservatismus in der CDU in den letzten zwei Jahrzehnten mehr und mehr an Boden. Die neue, nachgewachsene christdemokratische Parteielite goutierte nunmehr, wie die stets beneideten 68er, auch die Vorzüge lockerer Individualität. Auch die Anführer der Christlichen Union wollten sich jetzt und künftig nicht mehr lebenslänglich Normen unterwerfen und in Strukturen final festbinden lassen.
Mit der neuen demonstrativen Laxheit gegenüber kirchlich-christlichen Geboten schmiegten sie sich in den gesellschaftlich-kulturellen Gesamttrend ein. Denn insgesamt haben sich die nachwachsenden Generationen den institutionellen, kulturellen und normativen Prägungen der christlichen Großkirchen entzogen.
Das wird in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten auch politisch und gesellschaftlich durchschlagen. Unter den 50- bis 59-Jährigen gibt es heute noch 30 Prozent, denen die christliche Orientierung einer Partei wichtig ist, bei den 16- bis 25-Jährigen sind das weit unter zehn Prozent. Jeder dritte Deutsche ist mittlerweile sowieso konfessionslos. Insofern muss die CDU auf Gebote und Mahnungen des institutionalisierten Christentums nicht mehr groß Rücksicht nehmen - und sie tut es auch nicht.
Die Sphären der bürgerlichen Eliten haben sich aufgespaltet
Das gilt auch für die Repräsentanten der Wirtschaft, die sich selbst gern als Globalisierungselite verstehen. Konservativ ist diese Neubourgeoisie nicht. Aber auch nicht sonderlich politisch, vor allem nicht sonderlich treu gegenüber der Partei ihrer Eltern.
Konservative Loyalitäten gegenüber der Union existieren allein noch in den von Milieuforschern so bezeichneten "traditionsverwurzelten Lebenswelten". Nur hier erreicht die CDU weiterhin Werte von 50 Prozent und mehr. Allerdings: Nirgendwo sonst ist die Furcht vor Reformen so massiv wie hier in den Stammquartieren der Union, gleichviel ob es sich um Veränderungen im Bereich der Technik, der Politik oder der Ökonomie handelt.
Sicherheit in den eigenen vier Wänden und staatlicher Schutz vor Altersarmut - das sind die mentalen Grundprinzipien bei diesen treuen Unionswählern, von denen die meisten über 60 Jahre alt sind. Anhänger forscher Wettbewerbsapostel - à la Koch, Merz oder Clement, die gern genannt werden, wenn von einer neuen Partei gemunkelt wird - findet man hier nicht. Stattdessen ist man für einen fürsorgenden, sich kümmernden Staat.
Gerade diese ältere Klientel in der Wahlbevölkerung hatte nie eine Passion für schneidige Ermahnungen zur Eigenverantwortung bei Gesundheit und Rente. Im übrigen aber versiegt dieser gewissermaßen kleinbürgerliche Konservatismus, da traditionsverwurzelte Kernschichten aus der Generation der 1920er- und 1930er-Geburtsjahrgänge einfach rarer wird.
Keine Sympathien für einen sozial intervenierenden Staat
Das Problem allerdings ist: Es existieren daneben natürlich einige konstitutive bürgerliche Lebenswelten, die anders disponiert sind, aufgrund ihrer sozialen Privilegierung und beruflichen Zwänge auch anders denken und handeln können, ja müssen. Die Zugehörigen zu den Lebenskreisen der von den Lebensweltforschern sogenannten "Leistungsindividualisten" und "etablierten Leistungsträger" empfinden wenig bis gar keine Sympathien für einen sozial intervenierenden Staat. Und marktwirtschaftliche Reformen können den meisten von ihnen gar nicht schnell und energisch genug in Gang gesetzt werden.
Es war kein Zufall, dass die integrationsschwache CDU das Bundestagswahljahr 2005 auf beiden Seiten gravierend verlor, bei den "kleinen Leuten" mit Traditionsorientierung hier, im ungeduldigen Bürgertum der neuen Generation dort.
Indes, seltsam ist das alles schon. Denn der Konservatismus verliert die Schlacht gegen den Modernismus ausgerechnet in einer Zeit, in der dieser kulturell an Flair und Zauber massiv einbüßt.
In den Tiefenschichten der Gesellschaft wachsen die Bedürfnisse nach Bindung, Zuordnung, Sicherheiten, wenn man denn so will: nach Fahnen, Gesang und Gemeinschaft. Kaum einmal in den letzten vierzig Jahren war das kulturelle Terrain infolgedessen günstiger für einen expliziten, selbstbewussten Konservatismus in Deutschland.
Doch weiß die klassische Partei des Konservatismus an der Spitze dieser Republik mit einem klugen, ja weisen Konservatismus längst nichts mehr anzufangen. "Jeder, wie er es für richtig hält", heißt nun auch das Credo in Kreisen der Union. Reichen wird eine solche wurschtige Nonchalance für die Turbulenzen der nächsten Jahre und Jahrzehnte nicht.
Die Union wird daher die Debatte um eine neue Partei eines genuinen Konservatismus so schnell nicht mehr los.