Kretschmanns S-21-Problem "Ein guter Stolperer fällt nicht hin"

Ministerpräsident Kretschmann: Dem Grünen-Politiker stehen schwere Wochen bevor
Foto: Tim Brakemeier/ dpaBerlin/Stuttgart - Maß und Mitte. Das ist Winfried Kretschmanns Leitmotiv als Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Aufregend klingt das nicht, aber sehr seriös. Den Menschen im Südwesten scheint es zu gefallen, der grüne Regierungschef genießt hohe Zustimmungswerte.
Die würden wohl noch deutlich positiver ausfallen, wenn Stuttgart 21 nicht wäre. Bei S21 scheint der Maß-und-Mitte-Ministerpräsident an seine Grenzen zu stoßen. Denn längst ist die Auseinandersetzung um das 4,5-Milliarden-Bahnhofsprojekt zu einer Art Glaubenskampf geworden. Daran hat auch der Kompromissversuch von Schlichter Heiner Geißler nichts geändert. Nun läuft alles auf einen Volksentscheid Ende November hinaus - das dafür notwendige sogenannte Kündigungsgesetz wird am Freitag in den Stuttgarter Landtag eingebracht.
Ein Volksentscheid, der Kretschmanns grün-rote Koalition monatelang zu lähmen droht: Seine Partei ist gegen S21, die SPD dafür.
Ein Vorgeschmack war zu Beginn dieser Woche zu erleben: Da traf sich der SPD-Fraktionsvorsitzende Claus Schmiedel mit seinem christdemokratischen Kollegen Peter Hauk und CDU-Landeschef Thomas Strobl in Stuttgart, es ging um die Volksabstimmung und gemeinsame Aktionen. Die Grünen tobten, zumal bekannt wurde, dass auch Nils Schmid eine Woche zuvor an einem ähnlichen Treffen teilgenommen hatte: Schmid ist nicht nur SPD-Landeschef - sondern auch Vizeministerpräsident.
Regierungschef Kretschmann, 63, sah sich daraufhin zu zwei Sätzen genötigt, die aus seinem Mund einem donnernden Machtwort gleichkommen. "Es kann kein Bündnis eines Koalitionspartners mit der Oppositionen gegen einen Koalitionspartner geben", sagte er. "Das geht nicht."
Kretschmann will eine andere Politik machen
Zeigt der sanftmütige Kretschmann dieser Tage, nach einem knappen halben Jahr im Amt, dass er auch die harte Tour beherrscht? Der Regierungschef hat ja schon bewiesen, dass es ihm ernst mit einer anderen Art von Politik ist: Kretschmann stellt sich den Menschen, den Pfiffen und Rasseln, um seine Regierungsarbeit zu erklären. "Wir gehen die Dinge langsam an", sagt er. Kretschmann, Schützenkönig in seinem Heimat-Örtchen Laiz, will als Landesvater ebenfalls nah bei den Leuten sein. Deshalb nervt ihn auch die Abgeschiedenheit des Ministerpräsidenten-Dienstsitzes in der herrschaftlichen Villa Reitzenstein, hoch über dem Stuttgarter Kessel.
Doch den Ritualen der Politik kann er nicht entkommen. Kretschmanns "Machtwörtchen" gegenüber dem Koalitionspartner war zwingend. Die Macht eines Ministerpräsidenten definiert sich auch über seine Autorität. Mancher bei den Grünen hätte sich schon vor der jüngsten Eskalation gewünscht, dass ihr Regierungschef ein bisschen mehr Härte zeigt. Sätze wie "Ich bin naiv, und das werde ich mir auch erhalten" lassen Kretschmann zwar sympathisch erscheinen - aber hohe Sympathiewerte alleine machen noch keinen erfolgreichen Politiker.
Kretschmanns Ordnungsruf an die SPD sorgte immerhin dafür, dass Vizeregierungschef Schmid ein bisschen zurückruderte. Die Sozialdemokraten würden als Partei selbstverständlich keinem Bündnis pro S21 beitreten, erklärte er. Schmid schlägt außerdem einen "Volksabstimmungsknigge" vor, der Verhaltensregeln für Kabinettsmitglieder von Grünen und SPD definiert.
CDU und FDP erwägen Gang zum Staatsgerichtshof
Was darin stehen soll, ist allerdings noch völlig offen. Zunächst will man in Stuttgart das parlamentarische Verfahren in Richtung Volksentscheid abwarten, Ende September soll das "Kündigungsgesetz" verabschiedet werden. CDU und FDP kündigten inzwischen an, doch nicht vor dem Staatsgerichtshof gegen das Gesetz klagen zu wollen.
Der "Volksabstimmungsknigge" für die Minister ist das eine, sollte es tatsächlich zu dem Bürgervotum kommen, das dann voraussichtlich am 27. November stattfinden wird. Aber wie Grüne und SPD darüber hinaus mit ihrem Dissens umgehen wollen, ist erst recht unklar. "Für mich war die Ansage Kretschmanns total unverständlich", sagt Landtagsvizepräsident Wolfgang Drexler, ein exponierter S-21-Befürworter innerhalb der SPD. Immerhin würden bei den Bahnhofsprotesten regelmäßig Grüne gemeinsam mit Linken-Vertretern demonstrieren, "darüber beschwert sich niemand von uns". SPD-Fraktionsvize Martin Rivoir, ebenfalls ein Befürworter von S21, nennt Kretschmanns Intervention "übertrieben". Rivoir will sich auch vom Ministerpräsidenten nicht vorschreiben lassen, mit wem er welche Gespräche und Abmachungen habe.
Die Reaktionen von Drexler und Rivoir zeigen, auf was sich Kretschmann und seine Grünen im Volksentscheid-Wahlkampf einzustellen haben. Der Koalition steht ein nervenaufreibender Spätherbst bevor. Zumal sich vor den Grünen ein weiteres Riesen-Hindernis emportürmt: Laut Landesverfassung müsste ein Drittel der Wahlberechtigten gegen S21 stimmen - mehr als 2,5 Millionen Bürger - damit das Votum zählt. Das gilt als sehr unrealistisch.
Dass Grün-Rot allerdings an der Volksabstimmung zerbrechen könnte - das glauben nicht einmal Sozialdemokraten wie Drexler und Rivoir. Für das Aufkünden der Koalition und ein Bündnis mit der CDU, wie mancher Kommentator spekuliert, spricht aus ihrer Sicht nichts. "Das ist Unsinn", sagt Drexler. Landeschef Schmid betont: "Man braucht keine Angst um die Koalition zu haben."
Ministerpräsident Kretschmann wird es gern hören. Der Regierungschef weiß nun, dass er um sein Amt nicht fürchten muss - auch wenn der grün-rote Kampf um S21 hart wird. Einem seiner Lieblingssätze könnte Kretschmann dann doch treu bleiben: "Ein guter Stolperer fällt ja bekanntlich nicht hin."