Kunduz-Affäre BND informierte Kanzleramt rasch über zivile Opfer

Erstmals gerät Angela Merkel in der Kunduz-Affäre unter Druck - denn die Regierung hatte wenige Stunden nach dem Angriff eigene Hinweise auf zivile Opfer. Nach SPIEGEL-ONLINE-Informationen unterrichtete der BND das Kanzleramt über 50 bis 100 getötete Zivilisten. Ex-Minister Jung muss sich heute erklären.
Tatort in Kunduz: Frühe Informationen per E-Mail vom BND

Tatort in Kunduz: Frühe Informationen per E-Mail vom BND

Foto: Anonymous/ AP

Angela Merkel

Berlin - Die Bundesregierung erhielt nur wenige Stunden nach dem Bombardement zweier Tanklaster bei Kunduz sehr konkrete Hinweise, dass durch die beiden Bomben viele Zivilisten ums Leben gekommen sein könnten. SPIEGEL ONLINE liegt eine E-Mail an führende Beamte der Abteilung 6 im Kanzleramt von (CDU) vor. Am Morgen des 4. Septembers um 8.06 Uhr erhielt die Abteilung die Mail mit Erkenntnissen des Bundesnachrichtendienstes (BND), dass bei dem Angriff "zahlreiche Zivilisten ums Leben gekommen sind (Zahlen variieren von 50 bis 100)".

Die Informationen des BND nur Stunden nach dem Bombardement, bei dem bis zu 142 Menschen getötet wurden, waren ziemlich konkret. So berichtete der Dienst, das Kidnapping der beiden Tanklaster mit Treibstoff für die Nato könne "sowohl kriminellen (Diebstahl von Treibstoff) als auch terroristischen Hintergrund (mögliche Benutzung für Anschlag)" gehabt haben. Mindestens einer der Lkw habe sich aber auf einer Sandbank festgefahren. Daraufhin hätten die Dorfbewohner "die Gelegenheit" genutzt und "sich mit Benzinkanistern auf den Weg gemacht".

vom deutschen Oberst Georg Klein befohlenen Angriffs

Schon die Betreffzeile der E-Mail hätte im Kanzleramt die Alarmglocken schrillen lassen müssen: "Menschenmassen sterben bei Explosion in Afghanistan". Einige Zeilen darunter werden die BND-Erkenntnisse über die fatalen Folgen des geschildert. "Das Verheerende daran ist", so die E-Mail, "dass dabei zahlreiche Zivilisten ums Leben gekommen sind (Zahlen variieren von 50 bis 100)".

Was passierte mit den BND-Erkenntnissen?

Die E-Mail an die Abteilung 6 im Kanzleramt, welche die Koordination der Geheimdienste verantwortet, ist heikel. Erstmals liefert sie den Beleg, dass die Regierung sehr früh konkrete und durch eine eigene Behörde recherchierte Hinweise auf zivile Opfer des Bombardements hatte. Auch wenn Bundeskanzlerin Merkel die Existenz ziviler Opfer nie verneint hatte, setzt sie die E-Mail unter Druck. Es stellt sich die Frage, ob die Kanzlerin nicht früher in das schlechte Krisenmanagement ihrer Regierung hätte eingreifen müssen.

Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU)

Die Enthüllung wird auch eine Rolle bei der heutigen Sitzung des Kunduz-Untersuchungsausschusses spielen. Ab 14 Uhr wird der ehemalige gehört. Ihn hatte die Affäre um die Vertuschung der Wahrheit über die Vorgänge in der Septembernacht sein neues Amt als Arbeitsminister gekostet. Auf Wunsch der Kanzlerin zog sich Jung im November 2009 freiwillig zurück und ist seitdem normaler Abgeordneter im Bundestag.

Afghanistankrieg

In der öffentlichen Sitzung wird Jung sich fragen lassen müssen, ob er die brisanten BND-Informationen über die zivilen Opfer kannte. Wenn nicht, stellt sich die Frage, warum das Kanzleramt das Wehrressort nicht informierte. In den Blickpunkt rückt damit auch der ehemalige Chef des Kanzleramts, der heutige Innenminister Thomas de Maizière. Dass ihn die Abteilung 6 von einer solch brisanten Information über die bislang folgenschwerste deutsche Operation im nicht informierte, erscheint zumindest unwahrscheinlich.

Bundeswehr

Jung gilt als größter Verlierer der Kunduz-Affäre. Tagelang hatte der damalige Verteidigungsminister nach dem 4. September die Möglichkeit von zivilen Opfern negiert und auch danach stets heruntergespielt. Wie so oft wirkte Jung, der als Hesse nur aufgrund des Länderproporzes ins Kabinett von Angela Merkel gerückt war, überfordert, von seinem Pressesprecher schlecht beraten und inhaltlich nicht genügend interessiert an Aktionen der , die in Afghanistan im Jahr 2009 die rasanteste Eskalation der Gewalt seit Beginn des Einsatzes erlebte.

Merkel rückt in den Fokus des Ausschusses

Jung wird im Ausschuss mit Sicherheit mehrere Stunden befragt werden, er hat laut eigenen Angaben einen 45-minütigen Vortrag vorbereitet, in dem er die Lage schildern und sich rechtfertigen will. Schuldbewusst wirkt Jung nicht. Am Vortag seiner Vernehmung schlenderte der Ex-Minister recht gelassen durch die Parlamentsflure. Einer Zeitung sagte er, unter seiner Führung des Verteidigungsministeriums sei "alles richtig gelaufen".

Die Enthüllung der frühen Erkenntnisse des BND aber könnte Jung im Ausschuss als Zeuge in eine Nebenrolle rücken. Mit der E-Mail gerät plötzlich die Kanzlerin in der Affäre erstmals in den Blickpunkt. Bisher schien es, als ob letztlich Angela Merkel am Wochenende nach dem Bombardement eigens dafür sorgte, dass Jung endlich öffentlich die Existenz von zivilen Opfern einräumte und Untersuchungen ankündigte. Sie selbst sprach in einer Regierungserklärung wenig später allen Opfern ihr Mitleid aus.

Durch das Auftauchen der E-Mail, die als "Verschlusssache - nur für den Dienstgebrauch" klassifiziert ist, kommen nun viele Fragen auf Merkel und ihren Apparat zu. Denn die brisanten Informationen gingen nicht an kleine Beamte im Kanzleramt - bis hinauf zum stellvertretenden Leiter der Abteilung 6 zählt der Verteiler hochrangige Kanzleramtsmitarbeiter auf. Plötzlich wird sich der Ausschuss deshalb auch mit dem Informationsmanagement im Machtzentrum der Regierung und mit der Rolle der Kanzlerin befassen.

Wann Merkel selber vor dem Ausschuss erscheinen muss, ist bisher noch offen.

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