Lafontaines und Gysis Anhänger Wer Deutschlands neue Linke wirklich wählt
Berlin/Hamburg - Nato-Einsatz im Kosovo, Gerhard Schröders Agenda, Hartz IV - es war Enttäuschung über Rot-Grün, die Marcel Bois zu den Linken trieb. Der 29-Jährige sitzt in einem Café im Hamburger Schanzenviertel und nippt an seinem Espresso. Nebenan steht die Rote Flora. Vor einem Dreivierteljahr hatten Ermittler das linksautonome Kulturzentrum gefilzt - kurz vor dem G-8-Gipfel in Heiligendamm glaubten sie, die Szene könnte Anschläge planen.
Auch Bois zählt sich zu den Globalisierungsgegnern. Mit Anfang 20 ging er zu Attac, war bald bei allen großen Protestmärschen in Europa dabei; G8 in Genua, London, Nizza, Berlin. Aber "einfach so wild auf Demos laufen", sagt Bois, das reiche nicht. Als sich 2004 der Hamburger Landesverband der "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG) formierte, saß Bois bei den Gründungsrunden mit am Tisch. Er fand: "Endlich eine Partei, die inhaltlich etwas entgegenzusetzen hatte."
"Wir müssen lernen, als Volkspartei zu denken"
Menschen wie Marcel Bois haben in Oskar Lafontaiones und Gregor Gysis neuer Linken eine Heimat gefunden. Aus WASG und Linkspartei entstanden, ist sie zur fünften Kraft im System der Bundesrepublik geworden - daran kann es kaum noch einen Zweifel geben. Bremen, Niedersachsen, Hessen, Hamburg: Überall sitzt sie in den Parlamenten und knackt durch die neuen Mehrheitsverhältnisse endgültig die althergebrachte politische Farbenlehre auf. "Ab jetzt müssen wir lernen, als Volkspartei zu denken", soll Lafontaine seine Fraktionsgenossen im Bundestag vor kurzem eingeschworen haben.
Wer aber ist das Volk dieser Partei? SPIEGEL ONLINE traf Anhänger, Sympathisanten und Mitglieder wie Marcel Bois - Frustrierte, Studenten, Intellektuelle, Ostalgiker:
Die Linke als Volkspartei? Im Osten ist das längst der Fall. Aber auch im Westen legt sie ständig zu. In Lafontaines saarländischer Heimat sehen die Meinungsforscher die Partei bei 20 Prozent. Im ganzen Land würden nach den aktuellen Umfragen zwischen 11 und 14 Prozent der Wähler der Linken ihre Stimme geben.
Viel Zuspruch unter Arbeitslosen
Sie profitiert von einem Stimmungswechsel nach links in Deutschland - den sie selbst immer zu befeuern versucht hat. Den Slogan "Hartz IV muss weg" haben die Wahlkämpfer der Linken vor jeder Abstimmung hundertfach wiederholt. Er kommt an: Im Westen sammelten die Sozialisten überdurchschnittlich viele Stimmen unter Arbeitslosen.
Für viele Unzufriedene ist längst nicht mehr die SPD die Partei der sozialen Gerechtigkeit. 590.000 Wähler haben die Sozialdemokraten laut einer Infratest-dimap-Studie für die ARD seit der Bundestagswahl 2005 an die Linke verloren.
Dass sich ihre Lage bessert, wenn sie weiter links wählen, daran glauben viele Enttäuschte selber nicht. "Die Wähler sprechen der Linken bei der Arbeitsmarktpolitik keine besondere Kompetenz zu", sagt Andrea Wolf von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen. Sogar die CDU schneidet hier besser ab. Aber selbst wenn die Linke keine Probleme löse, sie benenne sie wenigstens - so denken die meisten ihrer Wähler, sagen die Demoskopen von Infratest.
Wer keine Perspektive hat, braucht manchmal keine großen Inhalte. Es reicht die Wut im Bauch. "Angst wählt links", kommentierte die "Süddeutsche Zeitung" vor wenigen Wochen. Doch die Linke zieht nicht nur die Verlierer an. Bisher schöpft die Partei vor allem aus zwei Wählerreservoirs, die sich stark unterscheiden, hat die Forschungsgruppe Wahlen ermittelt:
- Auf der einen Seite sind es tatsächlich die Frustrierten zwischen 45 und 60 Jahren, jene, die sich wirtschaftlich benachteiligt fühlen,
- auf der anderen jedoch auch Menschen mit Uni-Karriere, junge und ältere Linksintellektuelle.
"Bei den einen spielt der Protestgedanke eine große Rolle", sagt Andrea Wolf von der Forschungsgruppe, "die anderen setzen sich auch inhaltlich mit der Partei auseinander."
Wildern in der klassischen Klientel der Grünen
Eigentlich ist das linksintellektuelle Milieu der Hochschulabsolventen eine klassische Klientel der Grünen. Doch bei der Hamburg-Wahl Ende Februar haben gerade sie bei diesen Wählern sieben Prozentpunkte verloren. Demoskopin Wolf: "Die überdurchschnittlich starken Verluste in Hamburg könnten ein Indiz dafür sein, dass Linksintellektuelle sich von den Grünen ab- und der Linkspartei zuwenden." Bundesweit beziffert Infratest-dimap die Wählerwanderung auf 180.000 Stimmen.
Immerhin besteht für die Grünen die Hoffnung, die verlorenen Wähler wiederzugewinnen. Denn wer sich eine neue politische Heimat sucht, will sich nicht unbedingt sofort binden. ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn sprach zuletzt von "politischen Nomaden, die gerade jetzt ihr Zelt bei der Linken aufgeschlagen haben". Andrea Wolf von der Forschungsgruppe Wahlen sieht das ähnlich: "Da ist vieles noch im Fluss."
Genauso im Osten: Auch in den neuen Ländern sind es längst nicht mehr nur Ostalgiker, die sich der SED-PDS-Nachfolgepartei verbunden fühlen. Die alten Strukturen und Netzwerke, die Bürgernähe, sie geraten der Linken zum Vorteil: Die ältere Klientel liefert einen stabilen Stimmensockel - auf den man jetzt zum Beispiel in Thüringen gern so viel draufsatteln würde, dass es für den ersten Linken-Ministerpräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik reicht.
Die NPD ist im Osten eine ernste Konkurrenz für die Linke
Dazu kommen die wirtschaftlich erheblich düsteren Perspektiven im Osten. Hohe Arbeitslosigkeit, sterbende Dörfer, das Gefühl, vergessen worden zu sein - der Frust treibt die Menschen an, Protest zu wählen. Und der Unmut der Wähler kann schnell umschlagen, von einem ins andere Extrem. Die NPD ist im Osten durchaus eine Konkurrenz für Die Linke.
"Wir haben generell im Osten eine viel höhere Volatilität als im Westen, und unter den jüngeren Befragten - im Vergleich zu den älteren im Osten - fallen die Schwankungen noch stärker aus", sagt Wahlforscherin Wolf.
Wie nah rechts und links bei der Entscheidung an der Urne manchmal beieinander liegen, zeigte sich zuletzt aber auch im Westen - in Hamburg. Die Analysten von Infratest fanden heraus, dass sich die Linke einen erheblichen Teil ihrer Stimmen aus dem in der Hansestadt traditionell starken Lager der sonstigen Parteien sichern konnte. Zu dem gehörten bei früheren Bürgerschaftswahlen noch die Populisten von ProDM/Schill und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive. "Die Linkspartei hat sich hier als Staubsauger betätigt", sagte Infratest-Chef Richard Hilmer der "taz".
Marcel Bois war bei dieser politischen Putztruppe dabei. Er half in Hamburg-Altona wochenlang beim Wahlkampf der Linken, statt an seiner Doktorarbeit über Kommunisten in der Weimarer Republik zu schreiben, diskutierte mit Passanten, verteilte Flugblätter in der Fußgängerzone, stopfte Infomaterial in die Briefkästen. "An der Gegensprechanlage musste ich nie lügen", sagt er, "ich hab immer sofort gesagt, dass ich von der Linken komme - reingelassen wurde ich trotzdem".
16 Prozent kamen am Ende für die Linke in Altona-Nord heraus.