Landtagswahl in Hessen Alle schön beweglich

Die Krise der Großen Koalition in Berlin verleiht der Hessenwahl an diesem Sonntag enormes Gewicht. Dabei ist das einstige Land der Grabenkämpfe zu einem Hort politischer Harmonie geworden. Was ist geschehen?
Spitzenkandidaten Rock (FDP), Wissler (Linke), Al-Wazir (Grüne), Rahn (AfD), Bouffier (CDU), Schäfer-Gümbel (SPD)

Spitzenkandidaten Rock (FDP), Wissler (Linke), Al-Wazir (Grüne), Rahn (AfD), Bouffier (CDU), Schäfer-Gümbel (SPD)

Foto: Frank Rumpenhorst/ dpa

"Hessen war immer knapp": Diesen Satz hört man derzeit ständig in Wiesbaden, Kassel und Frankfurt. Und es stimmt ja: In dem Bundesland, das die SPD bis 1999 fast durchgängig regierte und in dem die CDU seitdem den Ministerpräsidenten stellt, gab es immer knappe Mehrheiten.

Was sich jedoch geändert hat: Die alten Lager, das klare Rechts-gegen-links-Schema gibt es nicht mehr.

Kaum irgendwo waren doch Grüne und CDU derart verfeindet wie in Hessen. Auf der einen Seite die einstigen Spontis um Joschka Fischer, auf der anderen der hessische Stahlhelm-Flügel der CDU um Alfred Dregger.

Und nun? Regieren die Grünen seit fünf Jahren in Hessen mit der CDU. Und scheinen davon sogar profitieren zu können.

Dennoch schließen sie auch einen erneuten Wechsel nicht aus: Allen Umfragen zufolge könnte es am Sonntag mehrere, rechnerisch mögliche Dreierkonstellationen geben: ein Jamaika-Bündnis von CDU, Grünen und FDP. Oder eine Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP. Oder Rot-Rot-Grün beziehungsweise Grün-Rot-Rot.

Hessische Verhältnisse: Dieser Begriff beschreibt eine Situation, bei der es nach einer Wahl keine klare Mehrheit gibt:

  • SPD-Ministerpräsident Holger Börner erlebte dies 1983, als er ein Dreivierteljahr geschäftsführend regierte, bevor er sich von den Grünen dulden ließ. Erst 1985 ging Rot-Grün eine Koalition ein - die erste dieser Art in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein Bild blieb haften: Wie Joschka Fischer in Turnschuhen vorm Landtag als Minister vereidigt wird.
  • Dann das Ypsilanti-Desaster von 2008. Die damalige SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti hatte im Wahlkampf eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausgeschlossen - und sie nach der Wahl doch angestrebt. Ihr Ziel: Rot-Grün unter Duldung der Linken. Wieder herrschten hessische Verhältnisse, fast zehn Monate lang war keine Regierungsbildung möglich, CDU-Ministerpräsident Roland Koch machte geschäftsführend weiter. Kurz vor ihrer Wahl entzogen dann vier SPD-Abgeordnete Ypsilanti die Unterstützung. Es folgten Neuwahlen. Koch konnte weitermachen und später an Volker Bouffier übergeben.

Aus diesem Debakel haben alle Parteien in Hessen gelernt. Bis auf Koalitionen mit der AfD wird nichts mehr ausgeschlossen. Und auch der Ton hat sich spürbar verändert.

"Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen": Mit diesem Plakat bediente die CDU noch vor zehn Jahren ausländerfeindliche Ressentiments. Grüne wie SPD wiederum betrachteten die Christdemokraten als Erzfeinde - Koch war für sie der Hardliner, der kaltblütige Polarisierer, der böse Bube.

Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir verweigerte ihm damals im Wahlkampf sogar den Handschlag.

Und heute? Kochs Nachfolger Bouffier versteht sich blendend mit Al-Wazir. Die Grünen sind in die Mitte gerückt, die CDU hat sich modernisiert. Bouffier sendete bereits bei seiner ersten Wahl zum Ministerpräsidenten im August 2010 Signale der Entspannung Richtung Grüne. Diese reagierten zunächst irritiert, ließen sich dann aber doch überzeugen und vereinbarten ein Bündnis mit jenem Mann, der als Innenminister noch als besonders konservativ galt, mithin als "Schwarzer Sheriff".

Thorsten Schäfer-Gümbel wiederum hat es geschafft, die Sozialdemokraten trotz der Dauerkrise auf Bundesebene zu einem ernsthaften Herausforderer zu machen. Ohne dabei auf Krawall und persönliche Angriffe zu setzen.

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Auch der Umgang mit der Linkspartei hat sich entspannt. Zwar ist das Ypsilanti-Trauma bei allen drei beteiligten Parteien nach wie vor spürbar. Dennoch ist klar: Die Linke ist nach zehn Jahren im Landtag pragmatischer geworden, die inhaltlichen Überschneidungen mit SPD und Grünen sind da.

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Landtagswahlen in Hessen: Und dann kam der Typ mit den Turnschuhen

Foto: Jörg Schmitt/ picture alliance / dpa

Für den Wahlkampf hieß das: Es gab keine großen, keine emotional aufgeladenen Themen. Statt über Flüchtlinge wurde über steigende Mieten, Straßenbau, Kitagebühren und Schulpolitik geredet.

Im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen war das eher: langweilig. Dennoch sind die neuen hessischen Verhältnisse keine schlechte Entwicklung. Es herrscht eine neue Sachlichkeit.

Der respektvolle Umgang der Spitzenpolitiker miteinander bedeutet dabei keineswegs, dass sich ihre Positionen nicht unterscheiden. Gerade CDU und SPD grenzen sich inhaltlich in so vielen Punkten voneinander ab, dass eine Große Koalition als unwahrscheinlichste Variante gilt.

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Aber das muss ja keine schlechte Nachricht sein.

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