Linke-Fraktionschef Wie Gysi einen DDR-Flüchtling nach Ostberlin zurücklotsen wollte

Furchtloser Dissidentenanwalt oder treuer SED-Funktionär? Akten aus den letzten Jahren der DDR belegen, dass sich der heutige Linke-Spitzenpolitiker Gregor Gysi beflissen Staat und Zentralkomitee andiente. So versuchte er 1988, einen Flüchtling zurück nach Ost-Berlin zu holen.
Linke-Fraktionschef Gregor Gysi: "Genosse Gysi kehrte erst nach Mitternacht zurück"

Linke-Fraktionschef Gregor Gysi: "Genosse Gysi kehrte erst nach Mitternacht zurück"

Foto: Z5627 Klaus-Dietmar Gabbert/ dpa

Berlin - Gregor Gysi redet gern und viel über das Leben in der DDR. Nur über seine eigene Arbeit als Anwalt und SED-Parteigenosse hat er wenig zu berichten. Dabei war Gysi in der DDR seit 1971 als Jurist tätig, 1988 stieg er sogar zum Vorsitzenden des Ost-Berliner Rechtsanwaltskollegiums auf. Neue Akten aus den letzten Jahren der DDR zeigen jetzt einen ganz unbekannten Fraktionschef der Linken: Neben dem Bild des Dissidentenanwalts, der angeblich furchtlos für seine Mandanten stritt, tritt das eines treuen SED-Funktionärs, der sich beflissen Staat und Zentralkomitee andiente.

So war Gysi im Mai 1988 an dem Versuch hoher SED-Funktionäre beteiligt, einen DDR-Flüchtling zurück nach Ost-Berlin zu lotsen. Dabei ging es um einen Wissenschaftler, der nach einer Besuchsreise in den Westen nicht mehr zurückgekehrt war. Gysi fuhr dazu eigens zum West-Berliner Ku'damm, um ein Angebot zu unterbreiten, welches er mit einem ZK-Genossen besprochen hatte.

Beteiligt waren an der Rückführungsaktion der für Sicherheit zuständige ZK-Funktionär Wolfgang Herger, der Stellvertreter Erich Mielkes, Rudi Mittig, sowie Egon Krenz. Gysi selbst stellt dazu, vom SPIEGEL befragt, die Aktion als eine Art persönlichen Gefallen dar. Er habe einem Abteilungsleiter beim ZK der SED helfen wollen, der den Besuch des Mannes im Westen ermöglicht hatte: "Ich sollte dem DDR-Flüchtling mitteilen, dass er zurückkehren könne, um sich mit seiner Verlobten zu unterhalten. Es war zugesichert, er kann sofort wieder nach West-Berlin fahren."

Die Rückführung des Flüchtigen galt für die DDR-Oberen als eine Frage des nationalen Prestiges. Am 20. Mai teilte Herger dem Generaloberst Mittig mit, man wisse, dass sich der Gesuchte in West-Berlin aufhalte. Es sei nun vorgesehen, dass "der ihm als Rechtsanwalt seines Vertrauens bekannte Genosse Gysi" den Flüchtling in West-Berlin aufsuchen und ihm mitteilen werde, dass er straffrei an seinen Arbeitsplatz zurückkehren könne. Generaloberst Mittig stimmte dem Einsatz Gysis zu.

"Genosse Gysi mit dem Ergebnis nicht zufrieden"

Allerdings verlief die Aktion nicht wie erhofft, da der entflohene Wissenschaftler auf das Angebot nicht einging und Gysi nach einem längeren Gespräch unverrichteter Dinge wieder nach Ost-Berlin zurückehren musste. Dass Gysi nicht wie gewünscht liefern konnte, weil der in den Westen Entschwundene hartnäckig blieb, empfand er offenbar als persönliche Niederlage. Von seiner Gesprächspartnerin im Zentralkomitee, Abteilung Staat und Recht, findet sich die Notiz: "Genosse Gysi kehrte erst nach Mitternacht in unsere Hauptstadt zurück"; er sei "mit dem Ergebnis nicht zufrieden" und wolle an einem der folgenden Tage "vor allem über die psychologischen Probleme aus dem Gespräch mit Fiedler nähere Einzelheiten übermitteln".

Welche Freiheiten Gysi seit Jahresbeginn 1988 genoss, belegen Aktenstücke zu weiteren Reisen. Weil Gysi auch auf internationalem Parkett eine gute Figur machte, ließ man den alerten Redner 1988 und 1989 nach München, London, Wien und Istanbul reisen. Gysi trat dabei als gewandter Vertreter seines Staates auf. "Selbstverständlich war ich verpflichtet, nach Dienstreisen Berichte für das Justizministerium zu fertigen. Die Reisen wurden ja nicht von mir, sondern vom Staat bezahlt", sagt der Linkspolitiker heute dazu.

Dass die Parteiführung die Hilfe des Anwalts sehr zu schätzen wusste, zeigt eine besondere Ausreisegenehmigung, in deren Genuss Gysi im März 1989 kam.

Intensiver Kontakt mit SED-Zentralkomitee

Zu einem Zeitpunkt, als die Mauer für Millionen DDR-Bürger noch eine unüberwindbare Barriere bildete, erhielt Gysi eine "Daueravisierung", gültig zur beliebigen, bevorzugten Ein- und Ausreise über den Flughafen Schönefeld oder Invalidenstraße. Ausgestellt war die Ausnahmegenehmigung von Wolfgang Reuter und damit ausgerechnet dem Offizier der Staatssicherheit, der für die Bekämpfung von einer Reihe von Gysis Mandanten aus der politischen Opposition zuständig war.

Heute dazu befragt, erklärt Gysi, er habe keinen ständigen Pass besessen, sondern ihn immer wieder holen müssen: "Ich hatte nach meiner Erinnerung auch kein Dauervisum. Wie dem auch sei, die Kontrollen hörten nicht auf."

Die neuen Unterlagen, insgesamt ein rund 400 Seiten starkes Konvolut, stammen aus dem Bestand des SED-Zentralkomitees, Abteilung Staat und Recht, mit der Gysi intensiven Kontakt unterhielt. Dazu kommen Unterlagen des DDR-Justizministeriums, Abteilung 7, sowie Schreiben, die Gysi in den achtziger Jahren selbst verfasste: als Parteisekretär im Rechtsanwaltskollegium Ost-Berlin und als SED-Nomenklaturkader. Etliche dieser Schriftstücke tragen seine Unterschrift.

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