Gysi, Lötzsch und Pau Linke Lebensversicherung

Die Linke kommt in den Umfragen der Fünfprozenthürde gefährlich nahe. Umso mehr kommt es nun auf die alte Garde an: Petra Pau, Gesine Lötzsch und Gregor Gysi müssen ihre Wahlkreise im Berliner Osten gewinnen.
Gregor Gysi und Gesine Lötzsch beim Wahlkampf in Berlin

Gregor Gysi und Gesine Lötzsch beim Wahlkampf in Berlin

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Timo Lehmann / DER SPIEGEL

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Am frühen Abend kommt ein Stück DDR-Geschichte auf Gregor Gysi und Gesine Lötzsch zugeritten. Es ist kurz nach 19 Uhr an einem Samstag im September, der Sonnenuntergang taucht die Trabrennbahn Karlshorst tief im Osten Berlins in goldenes Licht. Die Linken-Bezirksverbände Treptow-Köpenick und Lichtenberg haben zum Wahlkampfabschluss eingeladen.

Gojko Mitić trabt auf einem Pferd heran, streckt den Arm zur Begrüßung heraus. Winnetou des Ostens wurde er genannt, weil er in den DEFA-Western den Indianerhäuptling spielte. Jetzt ist er, inzwischen 81 Jahre alt, zur Wahlkampfunterstützung gekommen. Und die kann die Linke gerade gut gebrauchen. Es gehe jetzt darum, dass die Linke mal richtig stark wird, sagt Gysi. »Damit wir im Bundestag mal richtig auf den Putz hauen können.«

Ob das so klappt, wie es sich das Linken-Urgestein wünscht? Daran kann man derzeit zumindest Zweifel hegen. Die Umfragen sehen die Linke wenige Tage vor der Wahl bei sechs Prozent, das ist deutlich weniger als die 9,2 Prozent vor vier Jahren. Schlimmer noch: Die Fünfprozenthürde ist gefährlich nahe gerückt.

Angesichts dieser Gefahr könnten die Berliner Wahlkreise mit den Nummern 84, 85 und 86 bei dieser Bundestagswahl eine entscheidende Rolle spielen. Es geht dabei um Gysi, der in Treptow-Köpenick antritt, um die frühere Linkenvorsitzende Lötzsch in Lichtenberg und um Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau und ihren Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf. Gysi, Lötzsch und Pau sind so etwas wie die Lebensversicherung der Linken.

Hintergrund ist die Grundmandatsklausel im Bundeswahlgesetz. Diese besagt, dass eine Partei auch dann anteilig ihres Zweitstimmenergebnisses ins Parlament einziehen kann, wenn sie unter fünf Prozent landet – und zwar dann, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnt.

Das heißt: Sollte der Katastrophenfall für die Linke eintreten und die Partei am Wahltag noch weiter absacken, zum Beispiel auf 4,9 Prozent, dann könnte sie trotz Fünfprozenthürde entsprechend dieser 4,9 Prozent mit Sitzen im Parlament vertreten sein, wenn sie die drei Wahlkreise im Osten Berlins gewinnt. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Partei von der Klausel profitiert. 1994, damals noch als PDS, holte sie 4,4 Prozent, aber auch vier Direktmandate in Berlin, und konnte deshalb mit 30 Abgeordneten in den Bundestag einziehen.

Nicht nur in Berlin, auch anderswo rechnen sich Linkenkandidaten Chancen diesmal aus. So hofft etwa der Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch in Mecklenburg-Vorpommern auf seinen Wahlkreis, ebenso Katja Kipping in Sachsen und Susanne Hennig-Wellsow in Thüringen.

Am sichersten darf sich die Linke aber mit Gysi, Lötzsch und Pau fühlen. Nirgendwo sind die Bedingungen für die Partei besser als auf ihrem Hauptstadt-Terrain: urbanes Milieu, aber auch viele Menschen in prekären Lebenssituationen – und vor allem viele ältere Ostdeutsche. Die perfekte Mixtur für eine starke Anhängerschaft der Linken.

Linkenpolitikerin Petra Pau

Linkenpolitikerin Petra Pau

Foto: Guido Kirchner/ dpa

Allerdings, Überraschungen sind auch hier nicht ausgeschlossen. Gysi etwa hat diesmal Konkurrenz mit Promifaktor, in seinem Wahlkreis tritt für die CDU die frühere Eisschnellläuferin und Olympiasiegerin Claudia Pechstein an. In Marzahn-Hellersdorf geht der CDU-Politiker Mario Czaja ins Rennen. Czaja ist Deutschlands größter christdemokratischer Linkenversteher. Er wirbt in Videoclips sogar mit seinen guten Beziehungen zu Gysi für sich – und hofft so, den Linken Wähler abzujagen. Ein Selbstläufer ist der Berliner Osten für die drei Linkenbewerber also auch nicht, auch wenn Prognosen für die Wahlkreise sie derzeit vorne sehen.

Petra Pau sitzt in ihrem Büro im Jakob-Kaiser-Haus, direkt mit Blick auf den Bundestag. »Schauen Sie mal darüber«, sagt sie und zeigt aus dem Fenster auf das Reichstagsgebäude, nur wenige Meter entfernt, in dem auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sein Büro hat. »Weil Schäubles Büro dort und nicht hier liegt, haben die Mitarbeiter einen höheren Rentenanspruch«, sagt Pau.

Was sie meint: Das Reichstagsgebäude liegt auf dem Gebiet des früheren West-Berlin, ihr eigenes Abgeordnetenbüro im Osten. Hätte Schäuble seinen Sitz ebenfalls im Jakob-Kaiser-Haus, müssten die Mitarbeiter länger für die gleiche Rente arbeiten, nur weil sich das Büro 50 Meter weiter auf dem Boden der ehemaligen DDR befände. 31 Jahre nach der Wiedervereinigung hat man es nicht geschafft, die Renten anzugleichen. Dies sei einer der entscheidenden Gründe, sagt Pau, warum die Linke ihrer Ansicht nach gewählt wird – auch bei ihr im Wahlkreis.

Pau hat den von Plattenbauten geprägten Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf seit 2002 stets direkt gewonnen. Damals, 2002, war die PDS unter fünf Prozent geblieben. Gysi hatte sich wegen der Bonusmeilen-Affäre vorübergehend aus der Politik zurückgezogen, Pau und Lötzsch holten ihre Direktmandate – und saßen letztlich auch allein im Parlament. Der dritte Wahlkreis für die Grundmandatsklausel fehlte.

Dadurch kamen SPD und Grüne noch einmal auf eine Mehrheit und konnten weiterregieren – für Paus Partei war es eine traumatische Erfahrung. Während Rot-Grün die Agenda 2010 durchboxte, gab es keine linke Opposition im Parlament. Umso fulminanter war dann die Rückkehr 2005 mit dem Anti-Hartz-IV-Wahlkampf, bei dem Oskar Lafontaine dazustieß und auch Gysi wieder dabei war. Der Wiedereinzug der Linken verhinderte die Fortsetzung von Rot-Grün – und verhalf Angela Merkel so zur Kanzlerschaft.

Söder als Wahlhelfer für die Linken?

Viele kamen und gingen seither, Gysi, Lötzsch und Pau sind immer noch da. Auch bei dieser Wahl könnte ihr Wahlergebnis wieder maßgeblich entscheiden, wie die nächste Regierung aussieht. Wenn die Partei den Sprung ins Parlament doch verfehlen sollte, werden andere Optionen rechnerisch wahrscheinlicher, etwa Rot-Grün, Jamaika oder auch Schwarz-Grün.

Bleibt die Linke im Bundestag und reicht es rechnerisch für eine rot-grün-rote Regierung, dürfte sie sich in wenigen Wochen erstmals am Verhandlungstisch für Regierungssondierungen wiederfinden.

Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Gojko Mitić auf der Trabrennbahn Karlshorst

Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Gojko Mitić auf der Trabrennbahn Karlshorst

Foto: Timo Lehmann / DER SPIEGEL

Zurück zur Trabrennbahn Karlshorst. Gojko Mitić ist schon weg, die Sonne ist untergegangen. Gregor Gysi steht unten an der Rennbahn, hinter der Bühne. Wird er eigentlich im Wahlkreis darauf angesprochen, ob die Linke mit SPD und Grünen im Falle einer Mehrheit eine Regierung bilden sollte? »Erstaunlicherweise kaum«, sagt Gysi. Er hält kurz inne. »Also eigentlich kann ich es mir selbst noch gar nicht vorstellen, dass wir Bestandteil der Regierung werden.« Dann hebt er den Zeigefinger und scheint über sich selbst überrascht. »Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht mehr ausgeschlossen.« Er sei natürlich dafür, dass seine Partei mitregiert.

Gysi glaubt nicht, dass die Linke unter fünf Prozent landen könnte. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, da ist sich der frühere Linkenfraktionschef sicher, habe mit seinem Dauergerede über die linke Gefahr dafür gesorgt, dass seine Partei wieder interessanter werde. »Das bringt Zulauf.« Als er in München am Stachus eine Rede hielt, seien lauter junge Menschen da gewesen, sagt Gysi. Die habe Söder dorthin getrieben. Dank der CSU werde es deshalb die Grundmandatsklausel gar nicht brauchen, ist er überzeugt. Seinen Wahlkreis will er natürlich dennoch direkt gewinnen.

Während Gysi sich in Rage redet über die konservativen Warnungen vor der Linkspartei und die rot-grün-rote Regierungsoption, wird er von Lötzsch plötzlich auf der Bühne angekündigt. »Ich bin dran?«, fragt Gysi.

Der 73-Jährige läuft dann rasch auf die Bühne, redet eine gute halbe Stunde ohne Manuskript. Über die Ungerechtigkeiten der Wiedervereinigung, die verfehlte Außenpolitik der Bundesregierung, die Abschaffung von Hartz IV und warum die Fridays-for-Future-Bewegung völlig richtig liege. Im Berliner Osten bekommt er an diesem Abend sehr viel Applaus.

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