
Politik und Profit Der moralische Schaulauf der Union


Geldkoffer
Foto: ugurhan / iStockphoto / Getty ImagesDie Abgeordneten Georg Nüßlein und Nikolas Löbel haben durch die Vermittlung von Masken lukrative Geschäfte gemacht und die allgemeine Empörung darüber ist sehr groß, insbesondere auch bei der CDU und CSU. Dies verwundert allerdings, denn tatsächlich ist nicht ohne Weiteres zu erkennen, inwieweit die beiden Abgeordneten gegen die von der Union bisher verfolgten Richtlinien verstoßen haben könnten.
Insofern scheint es sich hier bei manchen eher um Krokodilstränen der Empörung zu handeln und es ist offensichtlich, dass hier zweierlei Maß an das Verhalten von Abgeordneten angelegt wird, je nachdem, ob dieses Verhalten den Wahlerfolg der Union bedrohen könnte oder nicht. Wer aber Prinzipien nur dann bei Bedarf ins Spiel bringt, wenn deren Verletzung mit negativen Folgen für die Partei einhergeht, sie aber unter Umständen ignoriert, wenn solche Konsequenzen nicht zu befürchten sind, hat diese Prinzipien offensichtlich gar nicht wirklich verinnerlicht, sondern hat ein rein instrumentelles Verhältnis zu ihnen, indem er sie lediglich zu gelegentlichem moralischen Schaulaufen einsetzt.
Denn im durchaus vergleichbaren Fall von Philipp Amthor blieben entsprechende Empörungswellen bei der Union aus, da sie in diesem Fall meinte, davon auszugehen zu können, dass die Empörung in der Öffentlichkeit bis zu den nächsten Wahlen verebbt sein würde. Angesichts der Tatsache, dass Philipp Amthor für die Bundestagswahl sogar von der CDU in Mecklenburg-Vorpommern als Spitzenkandidat nominiert worden ist, scheint die Rechnung ja auch aufgegangen zu sein. Es führt aber ein Weg von Amthor zu Nüßlein und Löbel, und dieser Weg führt über Brinkhaus, Schäuble, Kramp-Karrenbauer und Ziemiak.
Brinkhaus und Dobrindt haben die Handlungen von Löbel und Nüßlein mit den folgenden Worten kritisiert: »Ein Tätigwerden im Rahmen des Mandats darf nicht mit persönlichen finanziellen Interessen verbunden werden.« Das wirft interessante Fragen der Interpretation auf. Mit ganz ähnlichen Begriffen nämlich hat im letzten Jahr die Generalstaatsanwaltschaft von Berlin den Anfangsverdacht der Bestechlichkeit gegen Philipp Amthor zurückgewiesen. Denn da Amthor als einfacher Abgeordneter keine Entscheidungen oder Beschlüsse zum konkreten Vorteil von Augustus Intelligence hätte fassen können, sondern nur das Wirtschaftsministerium, gab es aus Sicht der Staatsanwaltschaft damals kein klar zurechenbares »Quid pro quo«, womit der Vorwurf der Bestechung bzw. Bestechlichkeit aus Sicht der Berliner Staatsanwaltschaft hinfällig war. Da die Tätigkeit außerhalb des Rahmens seines Mandats erfolgt sei, es aber nicht verboten sei, für solche Nebentätigkeiten Zuwendungen zu erhalten, gab es so gesehen keinen Rechtsverstoß.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Tätigkeiten im Rahmen des Mandats also sehr eng verstanden. Einen problematischen Interessenkonflikt hätte es nur dann gegeben, wenn er seine Möglichkeiten als Abgeordneter, also konkret innerhalb des Aufgabenbereichs als Abgeordneter, dafür eingesetzt hätte, hier einer bestimmten Firma, von der er Vorteile erhalten hatte, bestimmte Aufträge zu verschaffen. Die relevanten Entscheidungen bezüglich der Auftragsvergabe aber trifft nur die Regierung, also das zuständige Ministerium, also kann er als Abgeordneter des Parlaments hier gar keinen unzulässigen Einfluss ausgeübt haben.
Rechtlich scheint dieses Argumentationsmuster eins zu eins auf die Fälle von Nüßlein und Löbel übertragen werden zu können. Denn auch hier hat die letztlich entscheidenden Beschlüsse ein Ministerium, in diesem Fall das Gesundheitsministerium, getroffen. Dass es bei Nüßlein womöglich zusätzlich zu fehlerhaften Steuerdeklarationen gekommen sein soll, ist für die moralische Beurteilung seines politischen Verhaltens irrelevant, weil dies von den dafür zuständigen Behörden unabhängig verfolgt wird.
Rechtlich scheint hier also wenig zu holen zu sein, das liegt natürlich auch an einer Gesetzeslage, die bei diesen Belangen sehr großzügig ist, aber die einzige relevante Gesetzeslage ist nun einmal die aktuell gültige, unabhängig davon, als wie ausreichend man sie betrachten mag. Die Äußerung »Das geht so nicht. Wir sind eine Partei, die sich an Recht und Gesetz hält« des JU-Chefs Tilman Kuban entbehrt einerseits aufgrund seiner bekannten Verehrung für Helmut Kohl nicht eines gewissen ironischen Twists, verfehlt aber andererseits offensichtlich den Kern der Vorwürfe. Und tatsächlich empören sich Ralph Brinkhaus, Annegret Kramp-Karrenbauer und Paul Ziemiak nun im aktuellen Fall ja auch über das moralische Fehlverhalten der beiden Abgeordneten.

Das ist insofern bemerkenswert, als das moralische Verhalten von Philipp Amthor seinerzeit eben gerade nicht zum Thema gemacht worden ist. Der alte konservative Talkshow-Recke Wolfgang Bosbach stand seinerzeit mit seinem Urteil in der CDU ziemlich allein, dass es nicht nur die Kategorien »erlaubt« und »verboten« gebe, sondern eben auch die Kategorie »Das tut man nicht.« Dass diese moralische Dimension des Vorgangs aus der Sicht der Verteidiger Amthors offensichtlich völlig irrelevant war, brachte der Generalsekretär der CDU in Mecklenburg-Vorpommern, Wolfgang Waldmüller, treffend auf den Punkt, indem er feststellte, dieser habe alle rechtlichen Zweifel ausräumen können, seine Fehler seien »rein moralisch« gewesen.
Damit war die Strategie von CDU-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und von Ralph Brinkhaus aufgegangen, die Hürden für eine Maßregelung von Philipp Amthor besonders hochzusetzen, indem man sein Verhalten ausschließlich nach den rechtlichen Maßstäben bewertet sehen wollte. Damit konnte dann der Fall Amthor nach der rechtlichen Entlastung durch die Staatsanwaltschaft elegant fallen gelassen werden, weil die moralische Aufarbeitung aus Sicht der Union nun ebenfalls obsolet geworden war. Warum werden nun aber bei Löbel und Nüßlein ganz klar moralische Bewertungen ins Feld geführt?
Ein wesentlicher Aspekt, der die Unterschiede auf den ersten Blick – aber auch nur auf den ersten Blick – erklären könnte, ist die Verknüpfung der finanziellen Bereicherung im Kontext einer nationalen Krise. Die Analogie zum geschmähten und moralisch verwerflich handelnden Kriegsgewinnler, der sich bereichert, während andere Opfer bringen, liegt nahe. Doch schon beim sogenannten »Kriegsgewinnler« ist das Bild meist schief. Wenn der Krieg selbst als legitim, also als moralisch gerechtfertigt, betrachtet wird und der betroffene Geschäftsmann lediglich mit den Ressourcen handelt, nach denen es aufgrund des Kriegs eine besondere Nachfrage gibt, ist es keineswegs ersichtlich, warum das Handeln des »Kriegsgewinnlers«, das für den Erfolg des Unternehmens wesentlich ist, moralisch zu verurteilen sein soll.
Analog gilt nun für Löbel, womöglich sogar auch für Nüßlein, jenseits seiner Steuerproblematiken: Wenn sie konsequent nach den Regeln des Spiels gespielt haben, nämlich dem der sogenannten freien Marktwirtschaft, mit vielleicht auch gelegentlich mehr als nur einem Schuss von Milton Friedman, dem Spiel also, das ansonsten von Vertretern der Union (und auch der FDP) nie als moralisch verwerflich kritisiert worden ist, ist nicht klar zu erkennen, wie sie moralisch unredlich gehandelt haben sollen, wenn es das Spiel nicht ist. Keiner, zumindest meines Wissens keiner aus den Reihen der Union, wirft den beteiligten Medizintechnikfirmen, die Impfstoffe oder Masken herstellen, vor, dass sie mit der Krise ein lukratives Geschäft betreiben, was sie ganz ohne Zweifel tun.
Wir können nicht das Verhalten von Löbel und Nüßlein in ihrer Funktion als Agenten und Vermittler als moralisch verwerflich verurteilen, ohne die wirtschaftlichen Strukturen zu verurteilen, die es zulassen, aus der Not ein Geschäft zu machen, bei dem Provisionen von 250.000 Euro für eine Kontaktvermittlung dann eben auch als »marktübliche« Bagatelle abgetan werden. Wenn wir nicht bereit sind, über angemessene bzw. faire Preise in einer Krisensituation zu sprechen, in der die üblichen Bedingungen des Marktes, zwischen verschiedenen Produkten und gleichwertigen Substituten, die theoretisch in beliebigem Umfang zur Verfügung stehen, frei wählen zu können, außer Kraft gesetzt sind, wenn wir nicht über Modifikationen von Patent- und Lizenzrechten in einer solchen akuten Notlage zu diskutieren bereit sind, dann sollten wir uns auch nicht darüber empören, dass solche Wirtschaftsstrukturen die Konsequenzen hervorbringen, die sie ihrer Systemlogik nach automatisch generieren müssen.
Wenn also Löbel und Nüßlein im Rahmen dieses Spiels nur die Funktionen der Vermittler ausfüllen, die irgendwelche Personen immer ausfüllen, und sie diese Funktionen als Nebentätigkeit, die von ihrer Tätigkeit als Mandatsträger klar getrennt ist, ausüben, ist nicht nachzuvollziehen, warum diese Nebentätigkeit hier nach den sonst üblichen Maßstäben aus der Union auf einmal auf solche Vorbehalte stößt. Außer aus dem Grund, dass es dieses Mal eben zu einer allgemeinen moralischen Empörung gekommen ist, die der Union ihre Wahlchancen verhageln könnte.
Das heißt nun sicherlich nicht, dass ich das Verhalten von Nüßlein und Löbel verteidigen möchte. Ich will nur darauf hinweisen, dass sie in ihrer Nebentätigkeit bestimmte Handlungen ausgeführt haben, wie sie für die Rollen, die sie in ihrer Nebentätigkeit übernommen haben, eben im Zusammenhang solcher Geschäfte üblich sind. Damit gibt es strukturell keinerlei Unterschied zu dem, was Philipp Amthor gemacht hat, der seine Karriere bei der CDU nicht nur munter fortsetzen darf, sondern gerade noch einmal einen Karriereschub erhalten hat.
Meine Position hierzu, die ich schon in einem früheren Kommentar zu Philipp Amthor vertreten habe, ist die, dass wir das Verhalten von Abgeordneten grundsätzlich immer auch – und sogar ganz besonders – unter dem moralischen Aspekt beurteilen sollten, und nicht nur nach dem rechtlichen, der für Schäuble und Brinkhaus bisher der einzig relevante war. Für die Übernahme der zentralen Rolle eines Abgeordneten sollte es grundsätzlich selbstverständlich und unerlässlich sein, dass seine politische Tätigkeit niemals so ausgeübt werden darf, dass sie für ihn persönliche Vorteile bringt. Denn wenn das Gemeinwohl und der Eigennutz gemeinsam auftreten, entsteht eine systematische Verzerrung, die die Glaubwürdigkeit des Politikers untergräbt, weil wir seine Handlungen, seine Urteile und Empfehlungen nicht mehr als verlässliches Signal deuten können, dass er hier nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Doch auf genau dieses Signal sind wir angewiesen, um seine politische Tätigkeit bewerten zu können, z. B. auch in Hinsicht auf unsere nächste Wahlentscheidung.
Die Frage ist daher nicht, ob die spezielle Form der Nebentätigkeit in einem bestimmten inhaltlichen Kontext moralisch verwerflich war, sondern vielmehr, ob nicht die Nebentätigkeit an sich problematisch ist, wenn sie auf besondere Weise mit der Abgeordnetentätigkeit verknüpft ist. Es genügt nicht, wie die Generalstaatsanwaltschaft es getan hat, die Nebentätigkeit von der Abgeordnetentätigkeit dadurch zu separieren, dass sie nicht in den klassischen Aufgabenbereich des Abgeordneten fällt, vielmehr sollte das wesentliche Kriterium sein, ob die Nebentätigkeit dem Abgeordneten in seiner Rolle als Abgeordneter, also, weil er Abgeordneter ist, angeboten worden ist. Problematisch wären demnach Nebentätigkeiten, die der Abgeordnete gar nicht hätte ausüben können, wenn er nicht Abgeordneter wäre, weil sich diese Möglichkeiten ihm erst durch seine Abgeordnetentätigkeiten eröffnet haben.
Solche Verhaltensnormen sind unerlässlich für das Funktionieren jedes Systems. Im politischen System ist es eben die Norm, sich als Vertreter des Volkes im Rahmen seiner politischen Tätigkeit nicht auf unzulässige und unangemessene Weise zu bereichern (wobei es hier sicherlich einen Spielraum gibt, den ein Nebentätigkeitsgesetz entsprechend klar regeln könnte, wenn es denn ein nennenswertes solches gäbe). Für die Durchsetzung und Erhaltung solcher Normen aber muss es ein umgebendes System geben, bei dem die in diesem System handelnden Personen eine Norm zweiter Ordnung verinnerlicht haben, dass sie die Normbrecher, also diejenigen, die die ursprüngliche Norm verletzt haben, zur Rechenschaft ziehen und mit Sanktionen belegen. Also genau das, was nun mit Löbel und mit Nüßlein geschieht, was aber eben im Fall von Amthor nicht geschehen ist. Schäuble, Brinkhaus, Kramp-Karrenbauer und Ziemiak, der in seiner Verteidigung vom Amthor diesen sogar zum Opfer gemacht hat, haben mit ihrer Verweigerung, moralisches Fehlverhalten als relevant zu behandeln, erst die Kultur geschaffen und ermöglicht, auf deren Nährboden die Löbels und Nüßleins gedeihen können. Sie ernten nun lediglich, was sie selbst gesät haben.
Wie wichtig die Aufrechterhaltung moralischer Normen ist und was passiert, wenn dieser Mechanismus nicht mehr funktioniert, konnten wir mit Entsetzen in den letzten Wochen in den USA beobachten. Es ist ein Fehler, zu glauben, die Krise des amerikanischen politischen Systems wäre durch einen politischen Mutanten wie Trump verursacht worden. Die Verfassungsväter wie Madison, Hamilton und Jefferson waren Skeptiker, die nicht allzu viel Vertrauen in die natürliche Gutwilligkeit ihrer Mitmenschen hatten. Sich einen Autokraten vorzustellen, der seine Macht missbrauchen würde, fiel ihnen nicht schwer. Was jedoch jenseits ihrer Einbildungskraft lag, war die Vorstellung, dass es eine ganze Partei bzw. deren Elite geben könnte, die sich in ihrer Gesamtheit solchen Autokraten unterwerfen würde, weil sie sich persönliche Vorteile davon verspricht. Das Problem der amerikanischen Demokratie besteht nicht in einem Donald Trump, sondern in den Mitch McConnells, den Lindsay Grahams, Josh Hawleys und Ted Cruzs.
Das Problem der CDU und CSU besteht daher auch nicht in den Löbels und den Nüßleins, sondern in den von ihrer Führung geförderten Strukturen, in denen es erst einmal nicht verwerflich ist, wenn Abgeordnete in ihren Nebentätigkeiten Einkommen erzielen, die die aus ihrer Abgeordnetentätigkeit bei Weitem übersteigen, und wenn der Einfluss von Lobbyisten in keiner effektiven Weise geregelt und gesteuert wird. Solche Mechanismen, die die Nebentätigkeiten klarer regeln und auch deckeln, werden aber dringend benötigt, sodass die Abgeordneten im Idealfall zu Recht nicht mehr nur als Abgeordnete des ganzen Volkes, sondern auch als ganze Abgeordnete des Volkes wahrgenommen werden können.