
Anti-AKW-Protest: Wie in alten Zeiten
Menschenkette gegen Atomkraft 120 Kilometer Widerstand
Hamburg - Sie kamen von überall her: Mittfünfziger aus München, Familien aus Göttingen, junge hippe Hamburger, Rentner aus Berlin. Sie hatten Plakate und Fahnen wie vor 30 Jahren dabei und Politikermasken und schrille Verkleidungen. Popstars spielten auf und Politiker spielten sich auf. Kurzum: Es war ein Happening, ein Volksfest, wie es Deutschland seit Jahrzehnten nicht erlebt hat.
In mehr als 200 Bussen, drei Sonderzügen und Tausenden Autos reisten die Atomkraftgegner in die beschauliche norddeutsche Region. Den Umweltgruppen gelang es für viele überraschend tatsächlich, 100.000 bis 120.000 Menschen zu motivieren, eine 120 Kilometer lange Menschenkette entlang der Elbe zwischen den Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel zu bilden - die größte Demonstration dieser Art seit vielen Jahren.
Menschenketten, Sitzblockaden, Lichterketten, Mahnwachen, Ostermärsche und Friedens- oder Umweltdemos: Für die meisten Menschen sind das Stichworte, mit denen manche wehmütig die politischen Basisbewegungen der Siebziger und Achtziger beschreiben. Doch so unpolitisch wie oft angenommen ist auch die Jetztzeit nicht.
Was daran liegen dürfte, dass es nicht darum ging, irgendeine diffuse Befindlichkeit zu kommunizieren: Der Protest richtete sich gegen die Atompolitik der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Die war in den letzten Monaten erst Stück für Stück, dann deutlich von den Atomausstiegsversprechungen der letzten Regierung abgerückt - und treibt damit die Leute auf die Straße.
Isabel Winzer, 24, zum Beispiel. Sie steht im weißen Ganzkörper-Schutzanzug und mit einer Juso-Fahne in der Kette. "Bisher gab es ja keinen Anlass dazu, die Anti-AKW-Bewegung weiter zu betreiben. Es lief ja alles gut. Aber jetzt haben wir wieder einen Grund zu kämpfen." Winzer ist eines von vielen jungen Gesichtern, die oft bunt geschminkt in der Reihe zu sehen sind.
Dazwischen glänzen an diesem Tag auch viele ergraute Köpfe in der Sonne, auch der von Michael Schraeren, 60, aus Berlin. Er war nach eigenem Bekunden schon 1975 in der Bewegung mit dabei. "Die schwarz-gelbe Regierung hat sich in eine babylonische Gefangenschaft der Atomindustrie begeben", sagt Schraeren und zitiert damit die oft von Trittin geäußerten Worte. Man brauche die Kernkraft nicht als Brückenenergie: "Die erneuerbare Energien sind schneller gewachsen, als jeder gesagt hat."
Max, 54, und Martha, 58, Maier aus dem kleinen Ort Emmering bei München sind extra nach Hamburg gekommen. "Seit 1983 agiere ich gegen Atomkraft. Es ist eine menschenverachtende Technologie, das geht vom Uranabbau bis zur Endlagerung", sagt der Kriminalhauptkommissar. "Tschernobyl hat uns vor Augen geführt, wie gefährlich diese Technologie ist", ergänzt seine Frau.
Georg und Viola Möller haben ihre beiden Kleinkinder zur Kette in Hamburg mitgebracht. "Das ist eine Demonstrationsform, die ich den Kindern zumuten kann und auch eine Forderung, die ich den Kindern zumuten kann, nämlich: Abschalten! Und einschalten, was das Gehirn angeht", sagt Georg Möller.
Der offizielle Anlass der Menschenkette war der 24. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am kommenden Montag. Die Veranstalter zielten mit der Aktion jedoch auf Pläne der Bundesregierung, die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke zu verlängern. "Die Pannenmeiler Krümmel und Brunsbüttel müssen endgültig stillgelegt werden. Und auch der Betrieb der anderen Atomkraftwerke ist nicht länger zu verantworten", erklärte das Veranstalterbündnis von Umweltverbänden, Bürgerinitiativen, Erneuerbare-Energien-Verbänden, kirchlichen Organisationen, Jugendverbänden, Gewerkschaften und Parteien.
Anti-AKW 2.0?
Die nutzten das gemeinsame Anliegen zu deutlichen Schulterschlüssen, vor allem zwischen Vertretern von Grünen und SPD. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und die Grünen-Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin und Renate Künast beschworen gar eine Wiedergeburt der Anti-AKW-Bewegung. "Das ist der Auftakt des Widerstandes", sagte Gabriel bei einer Kundgebung in der Nähe von Hamburg. "Die Menschen waren ja froh darüber, dass der Ausstieg aus der Atomkraft Schritt für Schritt passiert ist", so Gabriel weiter. "Jetzt wollen CDU und FDP das bis zu 28 Jahre verlängern. Dagegen werden sich die Menschen schon ziemlich wehren."
Auch die Polizei in Norddeutschland bestätigte, dass die Aktion tatsächlich "deutlich mehr als hunderttausend Menschen" auf die Straße gebracht hatte. Rund 400 Beamte im Einsatz bekamen wenig Stress: Die Stimmung, so eine Sprecherin der Hamburger Polizei, hätte "an ein Volksfest" erinnert, "wenn das Thema nicht so ernst wäre".
Demonstrative Schulterschlüsse...
Manch Anti-AKW-Veteran mag da nostalgische Gefühle entwickelt haben: Das Schmücken von Polizeibeamten mit mitgebrachten Blümchen gehörte einst zum guten Ton - und zum typisch heiteren Happening-Charakter, den viele Demonstrationen der frühen Umweltbewegung hatten. So hatte auch der aktuelle Protest für viele Party-Charakter.
Den unerwarteten Erfolg feierten auch die Organisatoren überschwänglich, scheuten auch Pathos und große Geste nicht: Gabriel war am Samstagnachmittag gemeinsam mit dem schleswig-holsteinischen SPD-Vorsitzenden Ralf Stegner von Westen her und die beiden Grünen-Spitzenpolitiker Künast und Trittin von Osten auf der Bundesstraße 431 zwischen Elmshorn und Glückstadt westlich von Hamburg zusammengekommen. Sie fassten sich an den Händen und schlossen so symbolisch die Menschenkette.
...denn es ist auch Wahlkampf
Zuvor hatten Gabriel und Trittin in Interviews unabhängig voneinander erklärt, ein rot-grüner Wahlsieg in Nordrhein-Westfalen könnte den von der christlich-liberalen Koalition geplanten Ausstieg aus dem Atomausstieg doch noch aufhalten.
Ins gleiche Horn stieß in Hamburg der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir. Auf dem Hamburger Rathausmarkt reihte er sich in die Kette ein: "Es hat auch was damit zu tun, dass man als Familienvater seinen Beitrag dazu leisten möchte, dass diese unbeherrschbare Technologie so schnell wie möglich vom Erdboden verschwindet." Auch Özdemir wertete die Aktion als Signal für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai. "Über die Mehrheit im Bundesrat haben wir eine Chance, mehr Atommüll, mehr Unsicherheit, mehr Atomenergie zu verhindern."
Proteste gegen die Atomkraft fanden zeitgleich zu der Menschenkette in Norddeutschland auch in anderen Bundesländern statt. In Hessen umzingelten nach Angaben der Veranstalter rund 20.000 Menschen das AKW Biblis. Zudem gab es demnach Proteste vor dem Atommülllager im nordrhein-westfälischen Ahaus, wo nach Angaben der Bürgerinitiative "Kein Atommüll in Ahaus" mehr als 5000 Atomkraftgegner auf die Straße gingen.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe warf der Opposition hingegen vor, Angst vor der Kernenergie zu schüren. "Die Kernenergie ist für uns eine Brückentechnologie. Diese Brücke soll uns ins Zeitalter der regenerativen Energien führen", sagte er der "Neuen Ruhr/Neue Rhein Zeitung" vom Samstag.