Merkel auf Bildungstour Was die Kanzlerin über Küchenkräuter weiß
Berlin - Angela Merkel steht in der Ausbildungsküche des Bildungswerks Kreuzberg. Auf dem Tisch liegen verschiedene Kräuter. Die Kanzlerin nimmt einen hellgrünen Strauß, riecht daran, dreht sich um und fragt einen jungen Mann mit weißer Schürze und Kochmütze und Brille, was das wohl sei. Der Junge ist 18 Jahre alt und heißt Bert Kinzel. Er hat am Montag gerade seine Lehre begonnen. Sie hält ihm das Kraut direkt unter die Nase, er macht ein ratloses Gesicht.

Bundeskanzlerin Merkel (CDU), Bildungsministerin Schavan (links), Berlins Regierender Wowereit (SPD) im Kreuzberger Bildungswerk: Vom Elan der Ausbilder und Jugendlichen begeistert
Foto: DPAKinzel sieht in diesem Moment aus, als sei er gerade durch eine sehr entscheidende Prüfung gefallen. Merkel sagt: "Lavendel". Die Runde scheint beeindruckt: eine Kanzlerin, die sich auskennt in der Küche. In diesem Augenblick ruft ein Auszubildender: "Nein, das ist Rosmarin." Merkel stutzt, dann grinst sie und sagt: "Fehler vom Amt, nennt man das."
Alle lachen, auch Bert Kinzel, der Junge mit der Brille.
Merkel hat die Bildung zum Schwerpunkt gemacht
Es ist Merkels achte Station auf ihrer Bildungstour durch zehn Bundesländer. An diesem Tag kann also auch eine Kanzlerin noch etwas lernen. Merkel hat die Bildung zu einem ihrer Schwerpunkte auserkoren. Am 22. Oktober lädt sie zum Bund-Länder-Gipfel in Dresden. Ihr Ziel ist die "Bildungsnation" Deutschland.
An diesem Freitag ist die Kanzlerin in Berlin-Kreuzberg. Die Cuvrystraße 34 liegt tief im früheren Zustellbezirk SO 36. Es ist Kreuzberg wie aus dem Klischeefilm: Hauswände mit Graffiti bemalt, der vermüllte Görlitzer Park hundert Meter entfernt. Dort hat die Polizei in dieser Woche eine Großrazzia gegen Drogendealer durchgeführt.
Kreuzberg ist ein Kosmos der ganz eigenen Art: Immer noch Anziehungspunkt für Studenten, Künstler und Aussteiger, Ausgehmeile sowieso. Kreuzberg ist aber auch das: arm und vielerorts trostlos. Die Statistik des Bezirksamts liest sich wie ein Ranking der Probleme: Jeder Dritte hat hier keinen Job, fast jeder Fünfte lebt von Sozialhilfe, 35 Prozent der Einwohner sind Migranten, viele von ihnen ohne Schulabschluss.
Das Bildungswerk mitten im Kiez ist so etwas wie eine Insel der Glücklichen: Wer hier einen Ausbildungsplatz hat, der kann darauf hoffen, irgendwann einen Job zu bekommen. Türken, Deutsche, Schwarze, Mädchen mit und ohne Kopftuch - eine bunte Mischung trifft auf die Kanzlerin. 700 Jugendliche, Berufsrückkehrer oder Arbeitslose werden hier in Metallberufen, als Friseure, Floristen oder Köche ausgebildet.
Merkel ist nicht alleine. An ihrer Seite sind Bildungsministerin Annette Schavan, die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, der Kreuzberger CDU-Abgeordnete Kurt Wansner und Emine Demirbüken-Wegner, die einzige Türkin im CDU-Bundesvorstand.
Es ist ein Tag für starke Bilder. Dutzende Kameras sind aufgebaut im Innenhof. Auch Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister der Stadt, ist gekommen. Der SPD-Politiker will sich das Thema Bildung nicht von der CDU-Kanzlerin wegnehmen lassen. "Man kann nicht nur Kompetenz beanspruchen, man muss dann auch Verantwortung übernehmen", sagt er am frühen Morgen vor dem Rundgang. Berlins Schulsenator Joachim Zöllner hat kürzlich schon einmal eine Rechnung aufgemacht - fünf bis zehn Milliarden brauche man zusätzlich in ganz Deutschland für die Bildung. Man werde sehen, ob Merkel es "ernst mit der nationalen Bildungsrepublik" meine oder das Bildungsthema "nur als PR-Veranstaltung" nutze, hat Zöllner bei der Gelegenheit gesagt.
Die Sorge der SPD
Bildung, das war einmal das große Thema der SPD - Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Seit einigen Jahren erlebt es eine Renaissance. Doch Merkel ist gerade dabei, den Genossen auch die Bildung als Thema noch zu entreißen. Die Familienpolitik hat sie mit Ursula von der Leyen schon christdemokratisch eingemeindet. Für kommende Woche hat daher die SPD im Willy-Brandt-Haus in Berlin eine eigene Konferenz organisiert. Ein Papier hat der SPD-Bundesvorstand schon beschlossen, darin werden kostenlose Kitas und die Abschaffung der Hauptschulen verlangt. Die CDU hingegen will an den Hauptschulen weiter festhalten. Das macht Merkel an diesem Tag erneut klar, wenig später bei einer Konferenz mit CDU-Kreisvorsitzenden im Adenauer-Haus.
Der Wahlkampf um die Bildungspolitik hat also längst begonnen. Er schwingt auch im Innenhof des Bildungswerks Kreuzberg mit. "Ich freue mich immer, die Kanzlerin zu treffen, vor allem wenn sie sich für Bildung interessiert", frotzelt Wowereit. Jetzt müsse Merkel aber auch zeigen, dass "Taten folgen". Der Bund könne genug tun, ohne in die Kompetenzen der Länder einzugreifen.
Als Merkel schließlich eintrifft, begrüßen sie sich herzlich. Zwei, die sich gut verstehen. Gemeinsam mit dem Geschäftsführer des Bildungswerks, Nihat Sorgec, zieht der Tross durch das Gebäude. In ersten Stockwerk, wo junge Männer fräsen, setzt sich die Kanzlerin eine klobige Schutzbrille auf. Die Fotografen sind begeistert.
Unten, in einem angrenzenden, durch einen meterhohen Zaun getrennten Innenhof, spielt plötzlich ein Leierkasten. Für einen Augenblick sind die Polizisten irritiert. Dann ruft ein Beamter seinen Kollegen zu: "Wunsch vom BKA - er soll gelassen werden."
Es sieht aus wie eine bestellte Kreuzberg-Szenerie. Wird hier etwa der nächste "Lehmann"-Film gedreht? Doch der Mann heißt Thomas Gostischa, wohnt tatsächlich in der Cuvrystraße 33, also gleich nebenan. Den Journalisten reicht er seine Visitenkarte durch den Maschendraht des Zauns. "Leierkastenlyriker" nennt er sich.
Merkel und Wowereit kommen wenig später zur Pressekonferenz hinunter. Die Kanzlerin lobt den "Elan" und die "Begeisterung" des Bildungswerks, der Sozialdemokrat ermahnt Unternehmer, Jugendliche nach ihren Fähigkeiten und ihrer Leistung und nicht nach der Herkunft auszuwählen. Da singt und orgelt der Leierkastenmann: "Kinder kosten Liebe, Zeit und Müh. War immer so. War immer so. Nein, sie wachsen nicht wie`s liebe Vieh."