Merkels USA-Reise Plädoyer für ein entwertetes Bündnis
Potsdam - Bundeskanzlerin Angela Merkel ist eine Frau mit einem proamerikanischen Instinkt, weil der Sieg dieser Supermacht über die Sowjetunion ihr die Chance eines beispiellosen Aufstiegs gab. Doch seit ihrem Amtsantritt wird die Ostdeutsche von den Nachwenderealitäten der europäisch-amerikanischen Beziehungen eingeholt. Und die lassen Zweifel an jener Wertegemeinschaft aufkommen, die Konservative hier wie dort noch immer betonen.
Der britische Historiker Tony Judt hat kürzlich darauf hingewiesen, dass Europa und Amerika nur durch den Zufall des Zweiten Weltkrieges zu einer Einheit namens Westen wurden, die von Pearl Harbor bis zum Mauerfall gehalten hat. Seit die andere Wertezwangsgemeinschaft verschwunden ist, sind wir wieder in der Welt angekommen, die seit 1648 tatsächlich und seit 1815 bewusst die Beziehungen zwischen den Staaten ausmachte, die Welt der mehr oder minder souveränen Nationalstaaten. Und die kannte keine Wertegemeinschaft. Als Österreich, Russland und Preußen eine solche zu ewigen Verhinderung einer neuen Revolution im Jahre 1815 schaffen wollten, blieb England ganz und Frankreich halb draußen und die Heilige Allianz verkam zum Bündnis der Ostmächte. Zu unterschiedlich waren historische Erfahrungen und Interessen, der Wurzelgrund aller Konservativen.
Was damals galt, gilt heute noch immer, auch wenn Amerika an die Stelle Großbritanniens getreten ist, in dem manche Konservative wie im 19. Jahrhundert viele Liberale in England das Land des Heils und der Zukunft sehen. Was für Angela Merkel aus ihrer persönlichen Lebenserfahrung heraus nur zu verständlich ist, entspricht nicht dem kollektiven historischen Gedächtnis der Deutschen.
Warum Neokons und Kontinentalkonservative heute vieles trennt
Kontinentaleuropa ist anders. Was in den Staaten offensichtlich zusammengeht - Individualisierung und Traditionalismus, christlicher Fundamentalismus und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche - ist in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg getrennt. Während in Amerika erst der einzelne und dann die Gesellschaft vor dem Staat da waren, wurde in Europa der Wiederaufbau mangels bürgerlicher Gesellschaft nach dem Dreißigjährigen Krieg eine Sache der Fürsten, des Staates, der Obrigkeit.
Während in Amerika jeder für sich und nur ein individueller Gott für alle da war, ist der Staat in Kontinentaleuropa Ausgang und Ziel des gesellschaftlichen Baus. Nicht der ins Unbekannte vorstoßende landhungrige Kolonist hat das Land aufgebaut, sondern die französischen Könige und ihre habsburgischen Vettern haben es nach den Verwüstungen der Religionskriege wieder errichtet - der noch heut virulente Merkantilismus von französischen Politikern wie Chirac und Sarkozy hat hier seine Wurzeln.
In Preußen wie in Hessen haben die Fürsten das Land mit Glaubensflüchtlingen "peupliert" und der Große Friedrich hat das Oderbruch trockengelegt. Nach dem die ungezähmte religiöse Intoleranz Europa verwüste hatte, wurde der persönliche Gott an den Staat gebunden, um ihn gesellschaftsverträglich zu machen. Anfangs haben sich Konservative gegen diese Einvernahme einer schwachen Gesellschaft durch den Staat gewehrt, später haben sie die neue Autorität gegen die Anarchie individueller Überzeugungen verteidigt und dem Staat auch dort gedient, wo er nicht ganz ihren Vorstellungen entsprach. Burke ist da näher bei Hobbes als manchem lieb sein mag.
Wenn heute die Selbstverantwortung des einzelnen eingeklagt und die Staatsgläubigeit der kollektivistisch-sozialisierten Untertanen beklagt wird, übersieht man gern, dass auch diese Verformung staatlicher Fürsorge zu Zwang nur das letzte Glied einer Kette jahrhundertealter Tradition war, die mit Maria Theresias Sittenpolizei nicht begonnen und mit Bismarcks Sozialpolitik nicht geendet hat. Europa ist von seinen Fürsten gebaut, Amerika von seinen Bürgern besiedelt worden. Dass zwischen Paris und Moskau mehr Schlösser Theater, Galerien und Parks entstanden sind als im Rest der Welt - mit der Ausnahme vielleicht von Hindustan und einem Teil Chinas - ist die andere Seite einer Medaille, die heute manche für einen Mentalitätswechsel eintauschen möchten.
In einer Welt ökonomischer Kosten-Nutzen-Analysen ist Europa der Kontinent der ganz unökonomischen, aristokratischen, kulturellen Differenz wie der staatlich gezähmten Religion. Nach den verheerenden Weltkriegen kam in Deutschland wie in England und Frankreich der Sozialstaat hinzu. Er ließ Deutschland, so Michel Foucault, den Traum vom Reich vergessen, die Briten ihre indische Berufung und die Franzosen die revolutionär-napoleonische Erlösungsbotschaft an die Welt.
Macht braucht Rechtfertigung, um Anerkennung zu wecken
Ohne das Soziale wären die Deutschen wieder auf das Deutsche zurückgeworfen, das sich schon einmal als nicht rutschfest erwiesen hat. Denn Deutschland ist es nie gelungen die Bismarcksche Reichsgründung durch eine gesellschaftliche Integrationsleistung zu ergänzen. Jede Macht braucht eine Rechtfertigung, um Anerkennung und nicht bloß Furcht zu wecken. Doch Bismarcks Werk hatte keine Rechtfertigung im Zeichen einer Idee für sich.
Das neue Reich appellierte nicht an die Fantasie der Völker, an ihre Zukunftserwartung, ihren Menschheitsglauben. Es diente keinem werbenden Gedanken. Es stand für nichts, was über die bloße Staatlichkeit hinauswies. Deutscher-Sein enthielt kein Bekenntnis wie Engländer- oder Franzose-Sein; es besagte keinen Dienst an übernationalen Idealen wie sie durch das christliche Königtum Frankreichs, dessen Zivilisationsidee die große Revolution später verwandelt übernahm und den Puritanismus repräsentiert wurden. Verglichen mit dem Selbstbild eines Engländers hat ein Deutscher nur ein unbestimmtes Bild von seinem Land und von seinen nationalen Merkmalen.
Es gibt keinen Way of Life, der auf natürlich-gelassene Art bestimmte, was deutsch ist. Anders als im republikanischen mittleren Amerika gehört das soziale Haus zu unserer etatistischen kulturellen Tradition. Die Menschen haben sich daran gewöhnt und fürchten ihre Unbehaustheit. Eben das ist der Unterschied zwischen Amerikanern und Deutschen: Amerikaner haben in ihrer Geschichte immer mit wenig Staat gelebt, für uns Deutsche ist er nach zwei Weltkriegen und dem Zusammenbruch fast aller Heilsgewissheiten als Sozialstaat eine seelische Notwendigkeit, die man reformieren aber ohne Schaden für die kollektive Psyche nicht revolutionieren kann.
Angela Merkel hat diese Zusammenhänge offenbar erst nach der verunglückten Wahl begriffen, die Verfechter einer Wertegemeinschaft noch immer nicht. Schließlich wird ein Bündnis, das auf gemeinsamen Interessen beruht nicht dadurch obsolet, dass die Werte differieren. Auch früher gab es Bündnisse, die zweckgerichtet und nicht wertegesichert waren.
Wenn die Französische Republik mit dem Zarenreich eine Verbindung einging, die fester hielt als das autokratische Drei-Kaiser-Bündnis zwischen Habsburgern, Romanows und Hohenzollern, dann deshalb weil man mit den Grundwerten der Staaten nachsichtig umging. Schließlich ging es um gemeinsame Gefahrenabwehr und nicht darum, Franzosen in Russland heimisch zu machen. Je eher wir die deutsche Außenpolitik aus der Wertefalle befreien, desto stabiler werden unsere Beziehungen zu Amerika sein. Konservative können diesem Gedankengang folgen, Neoliberale und Neokonservative haben damit ein Problem.