Grüne vor der Bundestagswahl Das größte Risiko ist eine Revoluzzerin

Grünen-Kandidatin Canan Bayram
Foto: imago/ IPON"Das ist alles überhaupt nicht schön", schrieb Grünen-Chefin Simone Peter am Mittwochmorgen auf einer linksgrünen Mailingliste, gefolgt von einer Bitte: den aktuellen Streit nicht "weiter anzustacheln". Die interne Mahnung kommt zweieinhalb Wochen vor der Bundestagswahl, und sie offenbart den Druck, unter dem die Grünen in dieser hochnervösen Phase stehen.
Allerdings ist der Streit, den die Partei unbedingt befrieden will, hausgemacht. Oberflächlich geht es dabei um die Berliner Lokalpolitikerin Canan Bayram, die in ihrem Viertel mit radikalen Mitteln gegen steigende Mietpreise kämpfen will. Ihr Parteikollege Volker Ratzmann hält die Kandidatin nicht nur deshalb für "unwählbar".
Tatsächlich lenkt das Scharmützel aus den hinteren Parteireihen den Blick auf ein Grundproblem der Grünen: auf ihre zerrissene Identität, auf ihr ewiges Ringen um einen Kompromiss zwischen linkem Rebellentum und gemäßigtem Pragmatismus.

Grünen-PolitikerInnen Hans-Christian Ströbele, Canan Bayram
Foto: DPABislang hatte man diesen Konflikt erfolgreich aus dem Wahlkampf rausgehalten. Zwar sind die Umfragewerte weiter nicht berauschend, aber in Fernsehdebatten machte das Spitzenduo Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt einen aufgeräumten Eindruck. Eigentlich lief der Wahlmonat für die Grünen ganz okay. Bis jetzt.
Die ganze Geschichte ist kompliziert - und interessant:
- Die Rechtsanwältin Bayram will im bundesweit bekannten und urgrünen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg das Direktmandat holen. Bisher schaffte das nur ihr Vorgänger Hans-Christian Ströbele, der mit 78 Jahren in Spätrente gegangen war. "Die ist echt nicht wählbar", schrieb Parteikollege Ratzmann vergangene Woche in einem internen Mailverteiler. Der Satz wurde geleakt und von der "Berliner Zeitung" veröffentlicht.
- Ratzmann und Bayram, die 2009 von der SPD zu den Grünen wechselte, sind alte Rivalen. 2011 drängte sie ihn gemeinsam mit anderen zum Rücktritt als Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus (nicht zu verwechseln mit dem Bundestag). Heute ist er Vertreter der baden-württembergischen Landesregierung beim Bund - also so etwas wie der verlängerte Arm von Winfried Kretschmann, dem mächtigsten Grünen-Realo.
- Zuletzt provozierte Bayram mit einer Kampagne gegen explodierende Mieten: Sie lässt "Die Häuser denen, die drin wohnen" plakatieren, ein Spruch, der in der Vergangenheit auch von der Hausbesetzerszene genutzt wurde. Auf Nachfrage eines Journalisten distanzierte sich die Bundesspitze vom "missverständlichen" Slogan - Bayrams Bezirksverband rechtfertigte ihn als "konsequent und richtig" .
- Beide Vorfälle lassen den Eindruck entstehen, dass die Grünen nicht zusammen, sondern gegeneinander kämpfen. Spitzenkandidat Özdemir bemühte sich am Mittwoch um Schadensbegrenzung. "Wir sind als Bundespartei so geschlossen und entschlossen wie noch nie", sagte er auf Anfrage des SPIEGEL und mahnte in Richtung Berlin: "Das wünsche ich mir von allen unseren Landesverbänden. Denn nur gemeinsam können wir eine Wahl gewinnen."
Der Konflikt um die Ströbele-Nachfolgerin zeichnete sich schon länger ab. Auf dem Bundesparteitag im Juni rief Bayram dem grünen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer zu, er solle "die Fresse halten". Das fanden viele im Saal unprofessionell. Bayram nutzte die Bühne auch für einen Affront gegen Göring-Eckardt und Özdemir, indem sie eine Wählerin zitierte, derzufolge das Spitzenduo aussehe wie "Ortsvereinsvorsitzende der CDU".
Wie krass ist zu krass?
Politisch verfolgt die 51-Jährige ein radikales Ziel: "Internationale Immobilienfonds, die nur an Rendite interessiert sind" sollen "keine Chance mehr haben" und bei Bedarf enteignet werden können. "Kein Mensch versteht, warum für Autobahnen Grundstücke enteignet werden können, aber nicht für die soziale Frage des Verbleibs in der eigenen Wohnung", sagt sie.
In einem traditionell linken Kiez, in dem Megamieten zum wachsenden Problem werden, mag das ankommen. Zum selbstverordneten Außenbild des Realo-Spitzenduos passt es aber nicht: Die Bundesgrünen wollen zwar auch streiten und piesacken - aber nur so, dass man keiner Partei außer der AfD so richtig weh tut. Dahinter steckt auch das Kalkül, anschlussfähig für alle möglichen Koalitionen zu sein und mehr Menschen anzuziehen.

Abschied aus dem Bundestag: Sie kommen nicht wieder
Auch der Grünen-Basis sind Enteignungen zu krass. Ein entsprechender Antrag fiel auf dem Parteitag durch, die Grünen fordern stattdessen eine schärfere Mietpreisbremse und sozialen Wohnungsbau.
Bayram will trotzdem mit der Enteignungsparole in den Bundestag - und sorgt damit ironischerweise für ähnlich viel Unruhe wie ihr Feind Palmer, der im Wahljahr ein flüchtlingskritisches Buch rausbrachte. Der Streit zeigt deshalb auch einmal mehr, dass Lokal- und Regionalpolitiker mit ihren Bundesparteien mitunter wenig gemein haben.
Nun stecken die Grünen in einem Dilemma. Eigentlich wollen sie den einzigen grünen Wahlkreis nicht verlieren. Aber wenn die bundesweiten Umfragewerte so bleiben wie sie sind und Bayram das Direktmandat gewinnt, könnte die langjährige Politikerin Renate Künast aus dem Bundestag fliegen. "Dass die auch noch Renate rauskegelt, das darf echt nicht passieren", schrieb Ratzmann in der geleakten Konversation.