
Migration nach Europa Schluss mit der Asyllotterie


Migranten auf einem Touristenboot vor Malta, 2. Juni 2020
Foto: Rene' Rossignaud/ APIm Juli übernimmt Deutschland für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft in der EU. Der turnusgemäße Wechsel kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt für die gemeinsame Asylpolitik: In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln ist die Lage weiterhin angespannt. Andere EU-Staaten sind nur zögerlich oder gar nicht bereit, Flüchtlinge von dort aufzunehmen.
Aufgrund der Coronakrise haben mehrere EU-Länder zwischenzeitlich keine Asylanträge mehr angenommen, und Italien und Malta hatten ihre Häfen zeitweise geschlossen. Flüchtlinge aus Afrika, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, bleiben sich selbst überlassen, und die Zukunft der Seenotrettung ist ungewiss. Zunehmend berichten Medien, dass Flüchtlinge in EU-Mitgliedstaaten wie Kroatien und Griechenland misshandelt und einfach über die Grenze zurückgeschoben wurden, ohne dass vorher geprüft wurde, ob sie ein Recht auf Asyl haben. Das aber widerspricht eindeutig der Genfer Flüchtlingskonvention und europäischem Recht.

Michael Setzpfandt
Petra Bendel ist Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Die Politologin leitet das Zentralinstitut für Regionenforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu ihren Schwerpunkten zählen das europäische und deutsche Flüchtlings- und Asylsystem sowie die Integrationspolitik.
Deutschland muss helfen, diesen unhaltbaren Zustand zu beenden und zwischen den Mitgliedstaaten vermitteln. Das ist kein einfaches Unterfangen - zumal unter den erschwerten Bedingungen der Covid-19-Pandemie. Die Reform der europäischen Migrations- und Asylpolitik steht bereits seit vier Jahren auf der Agenda. Doch kaum ein Thema entzweit die Mitgliedstaaten stärker. Das bisherige "Dublin-System" ist häufig totgesagt, aber bisher nicht durch ein faires Verteilungssystem ersetzt worden. Noch immer gilt der Grundsatz, nach dem der EU-Mitgliedstaat, den ein Asylbewerber zuerst betritt, für sein Verfahren zuständig ist und ihn versorgen muss.
Mehr Geld für die Willigen
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat, als sie ihr Amt im vergangenen Jahr antrat, nicht weniger als einen "Neustart" der europäischen Asylpolitik versprochen. Aber wie kann und will sie die vorhandenen Blockaden überwinden? Die EU muss die Menschen, die in Europa Schutz suchen, solidarisch auf ihre Mitgliedsländer verteilen. Die Mittelmeerländer wie Griechenland, Italien und Spanien sind überfordert. Ein obligatorisches Quotensystem, um ankommende Flüchtlinge gerecht und anteilig auf die Mitgliedsländer zu verteilen, scheitert aber am hartnäckigen Widerstand der Višegrad-Staaten. Bis es ein neues System gibt, müssen flexible Lösungen gefunden werden. Die Situation in den Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln ist schon seit Jahren dramatisch; sie muss dringend entschärft werden. Dass sich einige Mitgliedstaaten bereit erklärt haben, in einer pragmatischen "Koalition der Willigen" minderjährige und andere besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen, war überfällig, reicht aber noch nicht aus. Solche Ad-hoc-Koalitionen können nur Zwischenlösungen sein.
Die EU sollte daher Anreize setzen, um ihre Mitgliedstaaten dazu zu bewegen, Flüchtlinge aufzunehmen. Staaten, Städte und Kommunen, die bereit sind, Asylsuchende aufzunehmen, sollte die EU finanziell unterstützen. Das ist besser als Sanktionen gegen Staaten zu verhängen, die sich weigern, Verantwortung zu übernehmen. Das darf aber auch kein Freibrief sein, sich europäischer Solidarität zu verweigern. Auf mittlere Sicht müssen alle Mitgliedstaaten schnelle und faire Verfahren gewährleisten und ihre Standards und Schutzquoten angleichen. In vielen Ländern, darunter Griechenland, dauern die Asylverfahren viel zu lang, und in ihren Anerkennungsraten unterscheiden sich die Mitgliedstaaten zum Teil erheblich voneinander. Die EU sollte ihren Mitgliedstaaten finanziell und mit Expertise unter die Arme greifen und helfen, ihre Asylsysteme aufzubauen und Integrationsmaßnahmen zu ergreifen, um die derzeitige "Asyllotterie" zu beenden.
Dass Schutzsuchende in den unterschiedlichen Staaten der EU sehr unterschiedlich behandelt werden, führt auch zu einer beträchtlichen Sekundärmigration: Nicht wenige Asylsuchende oder anerkannte Flüchtlinge ziehen von dem Staat, in dem sie zuerst angekommen sind, weiter in einen anderen Mitgliedstaat der EU, weil sie sich dort eine bessere Aufnahme, ein faireres Verfahren und höhere Chancen auf Schutz und bessere Integrationschancen versprechen.
Deutschland braucht einen klaren Kurs
Eine Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems liegt auch in Deutschlands eigenem Interesse. Denn Deutschland nimmt innerhalb der EU mit Abstand am meisten Flüchtlinge auf. Fast ein Viertel aller Asylerstanträge in der EU wurden im vergangenen Jahr allein in Deutschland gestellt. Die Hälfte aller Asylerstgesuche in der EU gingen in Frankreich, Spanien und Griechenland ein. Die übrigen 24 EU-Staaten nahmen, alle zusammen, im selben Jahr dagegen etwa so viele Anträge entgegen wie Deutschland. Auch wenn man die Asylanträge in Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl setzt, bleiben einige Länder der EU weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Dieses Ungleichgewicht darf nicht von Dauer sein.
Zunächst einmal muss sich die deutsche Regierung aber auf einen klaren Kurs einigen. Über die Vorschläge von Minister Horst Seehofer gibt es in der Großen Koalition schon Streit. Er entzündet sich vor allem an der Idee, Asyl-Vorprüfungen in "geschlossenen Zentren" an den EU-Außengrenzen zu erlauben. Geflüchtete sollen demnach schon bei ihrer Einreise nach Europa in "Asylzentren" festgehalten werden, damit ihre Anträge dort im Schnellverfahren vorab geprüft werden können. Haben Geflüchtete keine Aussicht auf Asyl, sollen sie direkt von dort wieder abgeschoben werden. Das erinnert an die umstrittenen deutschen "Flughafenverfahren", bei denen Asylsuchende in Flughäfen festgehalten werden, bis ihr Antrag geprüft wurde.
Grundsätzlich ist gegen Asylverfahren an der EU-Außengrenze und auf europäischem Boden nichts einzuwenden. Dabei muss aber der völkerrechtliche und europarechtliche Schutz von Flüchtlingen gewährleistet werden: So muss garantiert sein, dass Flüchtlingen voller Rechtsschutz gewährt wird - also, dass sie beraten werden und einen Rechtsbeistand erhalten. Außerdem muss gewährleistet sein, dass sie angemessen untergebracht werden, und dass ihr Asylverfahren schnell und fair abläuft.
Nicht zurück in die Ungewissheit
Darüber hinaus sind weitere Fragen zu klären: Was passiert, wenn nicht zu klären ist, woher genau ein Flüchtling kommt? Was soll mit Menschen geschehen, die zwar keinen Schutzanspruch geltend machen können, aber trotzdem nicht abgeschoben werden dürfen - etwa weil die Lage im Herkunftsland zu unsicher ist? Diese Menschen dürfen nicht einfach in die Ungewissheit abgeschoben werden - das wären illegale "Push-Backs", die verboten sind. Nicht zuletzt könnte die EU Schutzbedürftige aus Libyen, dem Libanon oder Jordanien auch direkt aufnehmen - zum Beispiel, indem sie die Resettlement-Programme wieder aufnimmt und ausweitet, die sie aufgrund der Coronakrise ausgesetzt hat. Die Mitgliedstaaten der EU haben angekündigt, in diesem Jahr 30.000 Flüchtlinge auf diesem sicheren Weg nach Europa zu bringen. Vor dem Hintergrund, dass die USA - der traditionell wichtigste Aufnahmestaat für solche Neuansiedlungen - unter Trump ihre Resettlement- Programme drastisch gekürzt haben, sollte sich die EU hier stärker engagieren.
Resettlement und andere staatlich gesteuerte, humanitäre Aufnahmeprogramme haben viele Vorteile: Sie ermöglichen Flüchtlingen, regulär und auf sicherem Weg einzureisen, statt sich auf eine gefährliche und irreguläre Reise etwa über das Mittelmeer zu begeben. Viele Flüchtlinge sind physisch und finanziell dazu gar nicht der Lage. Gerade Flüchtlinge mit dem größten Schutzbedarf - zum Beispiel Familien oder Personen, die gesundheitlich eingeschränkt sind - können besser über solche Resettlement-Programme geschützt werden. Staaten in Krisenregionen, die viele Flüchtlinge aufnehmen, werden dadurch entlastet. Auf diesem Weg könnten aber auch Schutzbedürftige aus Transitländern wie Libyen direkt aufgenommen und aus den Lagern dort evakuiert werden. Staaten, die sich an Resettlement-Programmen beteiligen, können festlegen, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen und deren Einreise kontrollieren. In der Coronakrise können zusätzliche Gesundheitschecks etwa noch im Herkunftsland durchgeführt werden.
Es braucht einen neuen Anlauf für eine verantwortliche und solidarische Asylpolitik. Deutschland muss im nächsten halben Jahr versuchen, die bestehenden Blockaden zu überwinden und Kurs im Sinne des europäischen Rechts zu halten. Die EU muss einen Weg finden, ihre inneren Gegensätze zu überwinden und zugleich den Normen treu zu bleiben, die sie sich selbst gesetzt hat.