Nazis töteten 1992 seine Familie, so kämpft Ibrahim Arslan heute gegen Rechtsterrorismus

Dieser Beitrag wurde am 19.06.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Das Erste, was Ibrahim Arslan nach dem Tod seiner halben Familie sah, waren Aliens – so erlebte der damals Siebenjährige die Feuerwehrkräfte, die ihn nach vier Stunden aus den brennenden Überresten seines Familienhauses holten.
Das war im November 1992 in Mölln, Schleswig-Holstein. Ibrahim überlebte das Feuer, weil seine Großmutter Bahide Arslan ihn in nasse Handtücher wickelte und in die Küche brachte, bevor sie selbst starb. Auch Ibrahims zehnjährige Schwester Yeliz und seine 14-jährige Cousine Ayşe Yılmaz kamen ums Leben.
Doch das Feuer im November 1992 in Mölln war kein Unglück, sondern der erste rechtsterroristische Anschlag nach der deutschen Wiedervereinigung.
Noch als das Haus brannte, riefen die beiden Täter, zwei stadtbekannte Rechtsextreme, bei der Polizei an und bekannten sich zu der Tat. Sie schrien: "Heil Hitler".
27 Jahre später wird in Deutschland wieder über Rechtsterrorismus gesprochen. Ein 45-Jähriger Deutscher wird verdächtigt, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke aus rechtsextremen Motiven ermordet zu haben. Lübcke wurde auf seiner Terrasse erschossen. Der als liberal geltende CDU-Politiker wurde wegen seiner Haltung in der Asyldebatte in den vergangenen Jahren mehrfach von rechts angefeindet. Der mutmaßliche Täter hatte nach SPIEGEL-Informationen zahlreiche Verbindungen zu rechtsextremen Strukturen, 1993 soll er einen Rohrbomben-Anschlag auf eine Asylunterkunft versucht haben – nur ein Jahr nach der Tat von Mölln.
Nach Walter Lübcke:
Zwölf Jahre nach dem NSU ist rechter Terror bedrohlicher denn je
Für Ibrahim Arslan hat der rechtsextreme Anschlag auf seine Familie das ganze Leben verändert. Er ist inzwischen 34 Jahre alt, verheiratet und hat selbst Kinder. Seit dem Bekanntwerden des NSU engagiert er sich mit anderen Betroffenen gegen Rassismus und rechte Gewalt. Seit 2012 organisiert er eine Gedenkveranstaltung für seine Familie. Zuvor hatte es immer wieder Konflikte über den Umgang mit den Hinterbliebenen gegeben. Arslans Familie lebt heute nicht mehr in Mölln.
Wir haben mit Ibrahim über die aktuelle Diskussion im Fall Walter Lübcke gesprochen.
bento: Ibrahim, wie hast du die Debatte über den Mord an Walter Lübcke in den vergangenen Tagen erlebt?
Ibrahim Arslan: Ich schaue bei solchen Taten immer, wie mit den Betroffenen umgegangen wird. Es war ein rechtsextremer Anschlag, deshalb fühle ich mich betroffen. Oft werden sie vergessen, wie beim Anschlag vom Breitscheidplatz, oder sogar selbst beschuldigt, wie beim NSU. Der Mord an Walter Lübcke war natürlich anders, weil es eine bekannte Persönlichkeit getroffen hat. Als bürgerlicher weißer Deutscher ist man eigentlich nicht so sehr im Fokus von Rassisten. Aber offensichtlich war es eine rechtsextreme Tat, da würde ich mir wünschen, dass mehr über das Opfer als den Täter geredet wird und die Motive klar benannt werden.
Die Tat wurde mit denen der RAF in den Siebzigern und Achtzigern verglichen. Manche sehen darin einen Beleg, dass die kürzer zurückliegenden NSU-Morde in Deutschland schon wieder vergessen sind. Wie siehst du das?
Terror ist einfach immer schlimm. Aber natürlich gibt es Unterschiede in der Erinnerungskultur. Migrantinnen und Migranten kämpfen seit den Achtzigern gegen rassistische Gewalt, aber ihnen wird bis heute nicht richtig zugehört. Das hatte schon beim NSU ganz konkrete Folgen. Nach dem Mord an Halit Yozgat gab es 2006 bereits eine Demonstration unter dem Motto “Kein zehntes Opfer!”. Doch damals hörte niemand auf die Hinweise von uns Migrantinnen und Migranten.
Dass Menschen deutscher Herkunft lieber über die Fälle von Gewalt gegen andere Deutsche reden, zeigt wie wenig sie sich mit den Erfahrungen von Migranten beschäftigen. Viele sehen das nicht: Die Erfahrungen, die die NSU-Hinterbliebenen oder meine Familie machen mussten, macht kein weißer Deutscher.

Woher kommt der blinde Fleck?
Menschen, die nicht von rechter Gewalt betroffen sind, können sich nicht vorstellen, was wir durchmachen. Deshalb gibt es oft kein Verständnis und so wenig Solidarität. Sich mit dem eigenen Rassismus auseinanderzusetzen ist außerdem unangenehm. Man muss sich hinterfragen: Wo war ich, als andere gegen Rassismus auf die Straße gegangen sind? Was habe ich mir gedacht, als in der Zeitung jahrelang von sogenannten Dönermorden geschrieben wurde? Denn eigentlich konnten schon damals alle wissen: Das war kein Dönerfleisch, das waren Menschen, die ermordet wurden.
Hat sich in den vergangenen Jahren wirklich nichts verändert?
Doch. Nach dem Anschlag von Christchurch wurden die Opfer viel stärker gewürdigt. Auch bei uns gibt es positive Entwicklungen. Die Betroffenen wehren sich heute mehr und sind stärker vernetzt. Nach der Selbstenttarnung des NSU gab es noch vor Prozessende ein symbolisches Tribunal im Schauspiel Köln. Verantwortliche Personen aus der Politik, von der Polizei und vom Verfassungsschutz, die in das Netzwerk um die Täter verstrickt waren, wurden symbolisch angeklagt. Es war ein wütendes Zeichen: Wir glauben nicht an Gerechtigkeit vor einem deutschen Gericht. Das hat die Überlebenden und die Betroffenen der rassistischen Morde nach Jahren der Verdächtigung in eine aktive Rolle gebracht. Auch mir hat das Mut gemacht, weil ich gemerkt habe, dass ich nicht allein bin.
Wie hat der Anschlag dein Leben geprägt?
Meine Kindheit endete in der Nacht. Ich musste mich mit Rassimus auseinandersetzen, während andere Kinder mit Matchbox-Autos oder Barbies spielten. Meine Familie musste sich entscheiden, in das Haus zurückzukehren oder in eine Flüchtlingsunterkunft zu ziehen. Deshalb lebten wir noch weitere fünf Jahre an dem Ort und in dem, an dem meine Großmutter verbrannte. Wenn ich aus dem Fenster meines Kinderzimmers sah, stand ich jahrelang genau dort, wo meine Schwester und meine Cousine starben. Es war unerträglich.
Meine Familie wurde, trotz der Bekenneranrufe, lange mit den Taten in Verbindung gebracht. Durch den Nachnamen kannte uns jeder und wir wurden ausgegrenzt. Auf dem Friedhof tauchten Schmierereien auf, in denen es hieß, meinen Vater erwische es auch noch. Ich selbst wurde auf Schützenfesten von Neonazis bedroht. Es gab einfach keine Sensibilität im Umgang mit uns. Bis wir weggezogen sind, lebten wir in unserem eigenen Land wie im Exil.
Was hat das für deine Familie bedeutet?
Ich war als Jugendlicher mehrere Jahre in Therapie, mein Vater benötigt bis heute Traumatherapie. Meine Mutter, die aus dem Fenster springen musste, spürt bis heute die körperlichen Folgen und nimmt ebenfalls psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Sie spricht auch erst seit wenigen Jahren wieder Deutsch, nach dem Anschlag hatte sie die Sprache komplett verlernt.
Wie kam es, dass du heute öffentlich auftrittst?
Wir haben sehr lange darunter gelitten, wie die offiziellen Veranstaltungen abliefen. Wir waren oft nur Statisten. Die NSU-Hinterbliebenen und die Überlebenden vom Breitscheidplatz erzählen von ähnlichen Erlebnissen. 2012 organisierten wir zum ersten Mal die Gedenkveranstaltung in Mölln selbst. Jan Delay ist aufgetreten, migrantische Autorinnen und Autoren haben Lesungen gehalten und es gab eine Rede der Nazi-Gegnerin Beate Klarsfeld. Seitdem mache ich Zeitzeugenarbeit und erzähle meine Geschichte in Schulen. Das hat mir sehr geholfen. Früher hatte ich einen ganz schlimmen Reizhusten, der immer erst wegging wenn ich Deutschland verlassen habe. Eine psychische Reaktion auf den Stress, die es beispielsweise auch bei Holocaust-Überlebenden gibt. Seitdem ich mich bewusst mit meiner Geschichte beschäftige, huste ich kaum noch.

Was kritisiert du am Umgang mit Betroffenen?
Die Gedenkfeiern für Opfer rassistischer Gewalt sollen oft zeigen, dass der Staat alles unter Kontrolle hat. Es war schlimm, aber jetzt ist wieder alles gut. Es wird über die Köpfe hinweg geredet, die Gefühle von Einheimischen sind wichtiger als die von migrantischen Betroffenen. Das stört mich noch heute. Joachim Gauck hat keine Ahnung, was es heißt, von Rassismus betroffen zu sein. Auch andere deutsche Politiker nicht. Sie können leicht reden. Die Hinterbliebenen müssen während der Gedenkveranstaltungen meist zuschauen. Es gibt eine wahnsinnige Angst, dass die Betroffenen die Kontrolle übernehmen. Aber ein Gedenken, bei dem die Hinterbliebenen nichts sagen dürfen, ist kein Gedenken. Es ist einfach respektlos, wenn man jahrelang nicht sagen darf, was man fühlt.
Was muss sich tun?
Wenn ich jetzt alles aufzähle, sitzen wir morgen noch da. Der erste Schritt wäre ein Verständnis dafür, dass sich das Rassismusproblem nicht in zwei Wochen mit Talkshows und Sondersendungen lösen lässt. Rechtsextremismus gab es schon vor dem Mord an Walter Lübcke.
Rassismus bedroht die ganze Gesellschaft, aber eben nicht jeden Einzelnen gleich schlimm. Ein Punker kann zum Friseur gehen, seine Spitzen schneiden lassen und danach aufhören, sich antirassistisch zu engagieren. Wir Migranten können das nicht. Wir können unser Aussehen nicht abgeben. Wir erfahren täglich, was es heißt, von Rechtsextremen bedroht zu sein. Wenn man unser Wissen endlich wahrnehmen würde, könnten wir alle besser leben.