Brisante Reformvorschläge für die Nato Es gibt ein Leben nach dem »Hirntod«

Bundeswehrsoldat mit Nato-Fahne in Litauen, im Februar 2019
Foto: Ints Kalnins / ReutersMilitärische Alleingänge wichtiger Mitgliedstaaten, Zweifel an der Bündnistreue der USA, Dauerstreit um die Verteilung der Lasten – seit Längerem fällt die Nato vor allem durch Katastrophenmeldungen über Streit und Uneinigkeit innerhalb der Allianz auf.
Vor gut einem Jahr war es der französische Präsident Emmanuel Macron, der die Krise des Bündnisses deutlich benannte. Seine Diagnose vom »Hirntod« des Bündnisses, ausführlich ausgebreitet im »Economist«, veranlasste Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg dazu, beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im vergangenen Dezember eine Gruppe von Experten mit Vorschlägen für eine Reform des Bündnisses zu beauftragen.
Unter der Überschrift »Nato 2030, Vereint für eine neue Ära« legt die Gruppe jetzt ihren Abschlussbericht vor.
Bruch mit den Grundprinzipien der Allianz
Es geht darum, das Verteidigungsbündnis an die »neue und sehr andere strategische Umgebung« im kommenden Jahrzehnt anzupassen, heißt es in der Zusammenfassung des 67-seitigen Papiers, die dem SPIEGEL vorliegt. Die Allianz soll handlungsfähiger, in Krisensituationen schneller und vor allem einiger werden.
Dabei schlagen die Experten, um die Handlungsfähigkeit der Nato zu verbessern, eine Reihe von Maßnahmen auf Kosten der Einigkeit vor, die mit bisherigen Grundprinzipien der Allianz brechen.
»Das Konsensprinzip ist ein Grundstein der Allianz«, heißt es in dem Papier, »aber die Nato muss sich befleißigen sicherzustellen, dass sie fähig bleibt, Entscheidungen rechtzeitig zu treffen und umzusetzen.«
So soll etwa das Vetorecht eingeschränkt und damit das Einstimmigkeitsprinzip aufgeweicht werden.
Zudem sollen auch Koalitionen von Willigen innerhalb der Nato möglich sein. Damit könnte die Allianz in Zukunft auch dann aktiv werden, wenn nicht alle Mitgliedsländer eine Mission gutheißen.
Es sind Vorschläge, die ihrerseits für strittige Diskussionen sorgen dürften.
Der Bericht der Experten aus zehn Nato-Staaten, darunter Deutschland, den USA, Frankreich und der Türkei, formuliert recht unverblümt die Sorge um den inneren Zusammenhalt der Allianz, erwähnt »Spannungen und Differenzen über die zugrundeliegenden Werte« der Nato sowie eine unterschiedliche Wahrnehmung der Bedrohung für die Bündnispartner.
Die Experten warnen davor, dass etwa Russland und China die Uneinigkeit der Allianz ausnutzen könnten. Als »zentrale politische Aufgabe« wird benannt, die Kohäsion der Nato zu stärken und die transatlantische Allianz zu konsolidieren.
In der strategischen Analyse des Berichts geht es vor allem um die äußere Bedrohungslage, die systemischen Rivalen Russland und China, die terroristische Bedrohung, die Instabilität an der Südgrenze der Nato.
Eigentlicher Hintergrund sind aber die kritischen Entwicklungen innerhalb des Bündnisses:
Die Befürchtung, die USA könnten mittelfristig als Garant für die Sicherheit Europas ausfallen,
die Diskussion um das künftige Verhältnis zwischen Nato und EU, wo mit der Erfahrung der Trump-Jahre eine Debatte über größere »strategische Autonomie« entbrannt ist, die Europa langfristig auch sicherheitspolitisch unabhängiger von den USA machen soll.
Und die zunehmende Entfremdung vom Bündnispartner Türkei, der durch seinen militärischen Alleingang in Nordsyrien und sein Sonderverhältnis zu Russland die Einheit des Bündnisses besonders auf die Probe stellt.
Die Experten – von deutscher Seite führte der ehemalige Verteidigungs- und Innenminister Thomas de Maizière, CDU, gemeinsam mit dem US-Amerikaner Wess Mitchell die Gruppe – haben einen 14 Punkte umfassenden Katalog von Empfehlungen erarbeitet, von denen die meisten eher erwartbar sind.
Da heißt es etwa, das Bündnis solle die Kombination von Abschreckung und Dialog gegenüber Russland fortsetzen, sich intensiver mit China als strategischer Herausforderung befassen oder die Bemühungen um Rüstungskontrolle beibehalten.
Strittige Vorschläge
Strittiger dürften die Vorschläge für eine engere Zusammenarbeit zwischen Nato und EU werden. »Die Nato«, heißt es in dem Papier, »sollte Anstrengungen der EU für eine stärkere und fähigere europäische Verteidigung begrüßen, insofern diese die Nato stärken, zu einer fairen transatlantischen Lastenteilung beitragen und Bündnispartner, die nicht der EU angehören, voll einbeziehen.«
So schlagen die Autoren für den nächsten Nato-Gipfel ein gemeinsames Format mit den EU-Staats- und Regierungschefs vor, um sich über die künftige Zusammenarbeit auszutauschen.
Die Idee dürfte vor allem in Ankara und London auf Widerstand stoßen, wo man – aus unterschiedlichen Gründen – eine engere Zusammenarbeit zwischen der Allianz und der Union kritisch sieht. Auch wie sich die USA unter einem neuen Präsidenten Joe Biden dazu stellen werden, ist unsicher.
Noch größer dürfte der Widerstand gegen die Überlegungen sein, das Einstimmigkeitsprinzip aufweichen.
Das Papier kritisiert, dass die Allianz immer häufiger durch das Veto einzelner Mitglieder blockiert sei. Als Abhilfe schlagen die Experten vor, dass ein solches Veto künftig nicht mehr unterhalb der Ministerebene möglich sein soll.
Um die »immer häufiger auftretenden Blockaden durch einzelne Länder« zu verhindern, heißt es in den Vorschlägen, »soll die Allianz in Betracht ziehen, die Schwelle für solche Blockaden auf Ministerebene anzuheben«.
Diese Einschränkung des Vetorechts dürften nicht nur Mitgliedstaaten wie die Türkei oder Ungarn kritisch sehen, die in der Vergangenheit ihr Vetorecht genutzt hatten, um Entscheidungen zu blockieren, und zwar oft aufgrund bilateraler Spannungen, die nichts mit der Allianz zu tun hatten.
Auch in Berlin sieht man den Vorschlag skeptisch. Im Bundesverteidigungsministerium fürchtet man, dass eine Einschränkung des Einstimmigkeitsprinzips die Grundfesten der Nato als Block gefährden könnte. Auch Koalitionen von Willigen innerhalb der Nato würden aus deutscher Sicht die Schlagkraft des Bündnisses beeinträchtigen.
Umsetzung ungewiss
In dem Papier heißt es, die Nato solle einen »strukturierten Mechanismus« aufbauen, um Koalitionsbildung innerhalb der Allianz zu unterstützen und in Krisenzeiten schnellere Reaktionen zu ermöglichen.
Ob diese Vorschläge am Ende umgesetzt werden, ist daher ungewiss. Zunächst sollen am kommenden Dienstag die Außenminister der Nato in einer Videoschalte über das Expertenpapier beraten, dann wird Generalsekretär Stoltenberg auf dieser Grundlage ein Grundsatzpapier für einen noch nicht terminierten Nato-Gipfel im kommenden Jahr erarbeiten lassen. Das wiederum könnte Grundlage für ein Update des Strategischen Konzepts der Nato von 2010 werden.
Was die Autoren des Papiers nicht mehr berücksichtigen konnten, war die Wahl von Joe Biden zum neuen US-Präsidenten.
Mehr als jede Reform dürfte es die Einigkeit und Zuverlässigkeit des Bündnisses stärken, wenn mit Biden nun wieder ein US-Präsident im Weißen Haus sitzt, der die Allianz nicht für »obsolet« hält und Beistandsverpflichtung des Bündnisses nicht infrage stellt.