Neuer Stasi-Schießbefehl Birthler-Behörde verwirrt sich und die Öffentlichkeit

Die Birthler-Behörde brüstet sich mit dem Fund eines neuen Stasi-Schießbefehls - und DDR-Forscher wundern sich: Dokumente wie das jetzt in Chemnitz entdeckte seien zu Dutzenden vorhanden, sagen sie.

Berlin/Chemnitz - Die Öffentlichkeit hat allen Grund zur Verwirrung: Der Stasi-Schießbefehl aus der Magdeburger Nebenstelle der Birthler-Behörde entpuppte sich schnell als alter Hut - Forscher sagen, davon wüssten sie seit Ende der neunziger Jahre. Doch die Stasiunterlagen-Behörde selbst scheint nicht weniger verwirrt zu sein als der unkundige Bürger in Ost und West. Nur so ist zu erklären, warum das Haus von Marianne Birthler heute einen neuen Schießbefehl-Fund in Chemnitz vermeldete, um gleichzeitig zwei ähnliche Entdeckungen von 1993 und 1997 einzugestehen.

"Wir wollen Klarheit schaffen", sagte Behörden-Sprecherin Ilona Schäkel SPIEGEL ONLINE. Offenbar auch für die eigenen Leute.

Das Chemnitzer Dokument ist Schäkel zufolge inhaltsgleich zu dem Magdeburger Fund - mit einem Unterschied: Im Gegensatz zu der ersten Entdeckung ist der Chemnitzer Schießbefehl nicht nur vom Empfänger, sondern auch vom verantwortlichen Absender, dem Kompaniechef, unterzeichnet. Für ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren könnte das von Bedeutung sein, vermutet Schäkel. "Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen", heißt es in beiden Befehlen.

Ähnliche Schießbefehl-Funde schon 1993 und 1996

Allerdings hatte es, wie die Behörde einräumt, eben schon in den neunziger Jahren entsprechende Funde gegeben. Sprecherin Schäkel erläutert: Der erste, von 1993, sei an die Staatsanwaltschaft Berlin übergeben worden, ebenfalls mit Unterschrift von Absender und Empfänger. 1997 wurde dieser, räumt die Behörde ein, sogar in einem Dokumentenband veröffentlicht. Den 1996 entdeckten Befehl habe man damals an das Berliner Landgericht übergeben.

"Fälschlicherweise" sei der Magdeburger Fund von der Behörde für neu erklärt worden, heißt es in einer Mitteilung aus dem Hause Birthler zu dem Chemnitzer Dokument. Die Frage stellt sich: Was ist dann neu an dieser Entdeckung?

Verwirrt sind auch DDR-Forscher - darüber, warum die Birthler-Behörde sich selbst ins Bein schießt. "Der Nachrichtenwert dieser Entdeckung ist doch wirklich gleich Null", sagt Klaus Schroeder, Leiter des "Forschungsverbund SED-Staat" der Freien Universität Berlin. "Absurd" nennt er das Verhalten der Behörde. Es sei doch völlig klar, dass man nun viele weitere gleiche Befehle finden werde, glaubt Schroeder, "jetzt, wo sie darauf aufmerksam geworden sind". Was der Behörde vorzuwerfen sei, findet der Historiker, ist folgendes: "Warum haben Sie das nicht schon seit dem ersten Fund 1993 erforscht?". Auch Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, wundert sich über die Arbeitsweise der Behörde: "Dass man jetzt erst sucht, ist schon sehr erstaunlich."

Bis zu 70 "Stasi-Einzelkämpfer", wie sie Knabe nennt, gab es laut Birthler-Behörde. "Das stimmt schon", sagt Sprecherin Schäkel, man werde demzufolge noch viele weitere solcher Befehle finden. Zum Teil schleuste man diese Stasi-Leute konspirativ in die Nationale Volksarmee (NVA) ein. 1985 wurde die Einheit, die zur Hauptabteilung I "NVA und Grenztruppen" des Ministeriums für Staatssicherheit gehörte, aufgelöst.

Birthler will die Kritik nicht verstehen

Dass ihr Haus wieder einmal in die Kritik geraten ist, kann Marianne Birthler überhaupt nicht verstehen. Dabei hatte ihre Einschätzung des Magdeburger Funds als brisante Neuigkeit, die sie wenig später korrigieren musste, die Debatte überhaupt ins Rollen gebracht. Fehler gebe es doch in jeder Organisation, meinte die ehemalige Grünen-Politikerin heute. "Es ist absurd, aufgrund eines Kommunikationsfehlers die Arbeit der Behörde in den letzten 16 Jahren in Misskredit bringen zu wollen", sagt Birthler. Dies habe nichts mit der Zukunftsdebatte zu tun.

Vor allem ihre Kritiker sind da anderer Meinung - sie halten die Behörde in ihrer jetzigen Form für überholt. Eine Forderung: Einbettung des Hauses in das Bundesarchiv.

Noch gibt es die Birthler-Behörde - und Kritiker Schroeder legt nach: Anstatt ihren Versäumnissen hinterher zu rennen, solle man dort der Frage nachgehen, wo die früheren Stasi-Grenzer untergekommen seien. "Vielleicht arbeiten die Todesschützen heute als Streifenbeamte", sagt er. Oder bei der Bundespolizei. Birthler-Sprecherin Schäkel hält das nicht für ausgeschlossen. "Aber wir können die Personalien ohnehin nur auf Antrag nachverfolgen", sagt sie.

Das sei schon ein sehr interessanter Punkt, glaubt auch Historiker Knabe. "Das Innenministerium als Arbeitgeber müsste eigentlich schon ein Interesse daran haben, welche Kaliber es da möglicherweise angestellt hat."

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