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Neun Stimmen zu wenig Abweichler ärgern Merkel bei der Wiederwahl

Die Opposition spricht genüsslich von einem Fehlstart von Angela Merkel: Denn mindestens neun Abgeordnete der schwarz-gelben Koalition hatten offenbar keine Lust, sie wieder zur Kanzlerin zu wählen. Sprecher von Union und FDP versuchten, die Bedeutung der Abweichler herunterzuspielen.

Berlin - "So wahr mir Gott helfe": Angela Merkel hat ihren Eid im Bundestag abgelegt - der Schlussakt des Starts in ihre zweite Amtszeit. Er sollte glanzvoll sein, doch die Kanzlerin bekam schon am ersten Arbeitstag der neuen Regierung einen Dämpfer: Sie erhielt bei der Wahl in geheimer Abstimmung nur 323 von 612 abgegebenen Stimmen. Damit verweigerten offenbar neun Abgeordnete von Union und FDP der alten und neuen Regierungschefin ihre Unterstützung. Denn bei der Koalition waren nach Angaben von Fraktionssprechern am Morgen alle 332 Abgeordneten zum Zählappell erschienen. Aus dem Lager der Opposition fehlten acht Abgeordnete: Bei SPD und Linkspartei waren je drei Fraktionsmitglieder entschuldigt, bei den Grünen zwei Abgeordnete.

Damit verbuchte Merkel 52,8 Prozent der abgegebenen Stimmen. 285 Parlamentarier stimmten mit Nein, 4 enthielten sich. Vor vier Jahren wurde Merkel mit 65 Prozent zum ersten Mal zur Kanzlerin gewählt.

Die Opposition spottete denn auch umgehend über Merkel und die neue schwarz-gelbe Regierung. Damit setze sich das Chaos fort, das schon bei den Koalitionsverhandlungen zu beobachten gewesen sei, sagte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier am Mittwoch in Berlin. "Darüber wird sich die Öffentlichkeit ihr Urteil bilden." Die Fraktionsvorsitzenden von Grünen und Linkspartei, Renate Künast und Gregor Gysi, sprachen von einem Fehlstart. Merkel habe nicht das gesamte Vertrauen von Union und FDP erreicht, lästerte Gysi: "Das ist kein guter Start."

Schwarz-Gelb spielt Bedeutung der Abweichler herunter

Die Union spielte die Bedeutung der Stimmenzahl herunter. Fraktionschef Volker Kauder (CDU) hielt Spekulationen darüber für müßig. Er würde sagen, dass aus der Unions-Fraktion alle für Angela Merkel (CDU) gestimmt haben, betonte Kauder am Mittwoch im Fernsehsender Phoenix. Die Wahl sei aber geheim. "Lassen wir das", riet Kauder von einer Debatte über die fehlenden Stimmen ab. Nach der Vereidigung Merkels am frühen Nachmittag im Bundestag müsse die Bundesregierung "sofort" mit der Arbeit beginnen. "Dann geht's los", betonte der CDU-Politiker.

Der bisherige Berliner CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer äußerte sich ebenfalls gelassen über die fehlenden Stimmen für Merkel. Er erinnerte daran, dass "noch nie" in der Nachkriegszeit ein Kanzler oder eine Kanzlerin alle Stimmen der eigenen Koalitionsfraktionen auf sich vereinigen konnte. Insofern reihe sich das jetzige Ergebnis für Merkel in diese "Regelmäßigkeit" ein.

Merkel erhielt am Mittag im Schloss Bellevue von Bundespräsident Köhler ihre Ernennungsurkunde und leistete danach im Bundestag ihren Amtseid. Am Nachmittag überreicht Köhler den neuen Ministern ihre Urkunden, bevor auch sie im Bundestag vereidigt werden. Dann kommt die Bundesregierung zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Dem neuen Kabinett gehören neben Merkel und Kanzleramtsminister Ronald Pofalla sechs CDU-Minister an, drei stellt die CSU und fünf die FDP. Die Regierungserklärung Merkels ist für den 10. November geplant.

SPD und Grüne kritisieren Auslandsreise

Am Abend will Merkel zur ersten Auslandsreise ihrer zweiten Amtszeit zu Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy nach Paris aufbrechen. Am Donnerstag nimmt Merkel an dem EU-Gipfel teil. Anfang kommender Woche reist die Kanzlerin nach Washington, um vor dem US-Kongress zu sprechen.

SPD und Grüne warfen Merkel die Missachtung des Parlaments vor, weil sie nach ihrer Vereidigung ins Ausland fliege, ohne dem Bundestag über die Inhalte der künftigen Politik Rede und Antwort zu stehen. Opposition und Öffentlichkeit hätten einen Anspruch darauf zu erfahren, was in dem Koalitionsvertrag nicht geklärt sei und wohin die Reise etwa bei der Gesundheits- und Steuerpolitik gehen solle, sagte Steinmeier. Das Vorgehen der Kanzlerin sei umso erstaunlicher, nachdem Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) am Vortag die Bedeutung der parlamentarischen Arbeit hervorgehoben habe.

Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sprach von einem "Affront gegen einen Verfassungsgrundsatz". Es sei seit Jahrzehnten guter Brauch, dass die Bundeskanzlerin nach ihrer Wahl sage, was die neue Regierung wolle. Merkel wisse offensichtlich noch gar nicht, was sie den Bundestagsabgeordneten eigentlich erklären solle. Co-Fraktionschef Jürgen Trittin warf Merkel vor, sie sei die "Kanzlerin der Klientel der Kesselflicker". Die Öffentlichkeit wolle von der Kanzlerin wissen, was auf sie zukomme. Dass Merkel dies verweigere, sei "ein Ausdruck von Arroganz".


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als/Reuters/dpa/ddp/
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