Neuwahlen Schulz' Attacke auf die Super-Koalition
Berlin - Im Büro des grünen Abgeordneten Werner Schulz nimmt man allmählich Kampfformation an: "Todernst" sei die Ankündigung gemeint, gegebenenfalls vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Die Vorbereitungen liefen schon, Juristen würden längst konsultiert, "das ist alles im Entstehen". Was hier vorbereitet wird, ist nicht weniger als der Versuch, die Neuwahlen, die sich eine Super-Koalition aus SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP sowie einer Mehrheit der Bevölkerung wünscht, im letzten Moment zu verhindern - im Alleingang.
Zwei Bedingungen müssen jetzt noch eintreten, damit Werner Schulz losschlagen kann: Erstens muss er morgen zu der Überzeugung gelangen, dass das Abstimmungsverhalten bei der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Gerhard Schröder fingiert war; und zweitens muss anschließend trotz dieser mutmaßlichen Manipulation Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag auflösen, um den Weg für Neuwahlen freimachen - erst dann nämlich wären Schulz' Rechte als Abgeordneter beschnitten worden, was nach Ansicht vieler Rechtsexperten die Grundlage seiner Beschwerde in Karlsruhe sein muss.
Einen Tag vor der Abstimmung über die Vertrauensfrage soll sich Schulz mit Bundespräsident Horst Köhler zu einem vertraulichen Gespräch getrogffen haben, und zwar auf Köhlers Initiative. Das berichtet die "Lausitzer Rundschau". Über den Inhalt des Gesprächs wurde zunächst nichts bekannt.
Schulz war der erste Bundestagsabgeordnete, der Widerwillen gegen den Neuwahl-Wunsch von SPD-Chef Franz Müntefering und Kanzler Schröder formulierte. Er machte geltend, die V-Frage sei fingiert - es komme dem Kanzler ja gerade darauf an, dass ihm das Misstrauen ausgesprochen wird, was eine Beugung der Verfassung darstelle. Ein Rücktritt Schröders sei deswegen die sauberste Lösung. Eine Zeitlang galt Schulz' Position als das letzte Aufbäumen eines Gescheiterten - erst vor zwei Wochen versagten die Grünen ihm einen sicheren Listenplatz für die nächste Bundestagswahl; als Querdenker und -schießer ist er schon lange bekannt.
"Dann wäre der alte Bundestag weiter im Amt"
Doch mittlerweile hat Schulz Mitstreiter auf seine Seite gebracht: Die SPD-Parlamentarierin Jelena Hoffmann erwägt ebenfalls eine Klage, die grüne Innenexpertin Silke Stokar unterstützt Schulz' Vorgehen, auch wenn sie im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE ausschloss, der Klage beizutreten. Namhafte Verfassungsexperten rechnen Schulz ebenfalls gute Chancen aus. Entfaltet sich das Szenario so, wie es sich der Ex-DDR-Bürgerrechtler wünscht, wären am Ende alle düpiert - bis auf ihn, den einzig wahren Verfassungspatrioten. Das wahrscheinlichste Verfahren sähe so aus:
- Zunächst dürfte Schulz abwarten, bis Präsident Köhler den Bundestag auflöst; für seine Entscheidung hat er ab dem Moment, an dem der Kanzler ihn darum bittet, 21 Tage Zeit. "Einen anderen Weg sehe ich nicht", sagt der Berliner Verfassungsrechtler Christian Pestalozza, Professor an der Freien Universität Berlin.
- Anschließend könnte Schulz dann ein Organstreitverfahren in Karlsruhe einleiten. Dazu müsste er geltend machen, dass seine Rechte als Abgeordneter beschnitten wurden - denn Schulz hat wie jeder Parlamentarier Anspruch darauf, die volle Legislaturperiode im Bundestag zu verbringen, solange dessen Auflösung nicht auf verfassungsgemäße Weise zustande kommt. Dass dies grundsätzlich auch so ist, darüber herrscht weitgehende Einigkeit.
- Die Verfassungsrichter müssten dann aber prüfen, ob Ablauf der Vertrauensfrage und die Entscheidung Köhlers tatsächlich, wie von Schulz unterstellt, verfassungswidrig waren. Bejahen die Richter diese Frage, "wäre der alte Bundestag weiter im Amt", so Pestalozza. Die Folge: Rot-Grün müsste weiterregieren bis zum Herbst 2006.
Er blieb im Amt, die Karlsruher Richter ließen Kohl gewähren. Doch gerade weil die Verfassungsrichter damals zum Ausdruck brachten, sie wünschten keine Wiederholung eines derartigen Manövers, glauben etliche Rechtsexperten, dass es für Schröder heute wesentlich schwieriger werden dürfte, mit der "unechten Vertrauensfrage" noch einmal durchzukommen. Allerdings sieht auch Musil, auf wie dünnem Eis vor allem die SPD derzeit agiert: Er hält es für "Blödsinn", dass Müntefering in seiner Eigenschaft als Fraktionschef vorgestern die SPD-Abgeordneten dazu "einlud", sich zu enthalten, weil man angeblich auch auf diese Weise dem Kanzler das Vertrauen aussprechen könne.
Wie stimmt Schulz ab?
Pestalozza erkennt dieses Problem ebenfalls - und ist sicher, dass das Begehren des Kanzlers nicht aufgehen wird: "Ich würde wetten: Es gibt am Ende keine Auflösung des Bundestages. Ich glaube, dass entweder der Bundespräsident oder das Bundesverfassungsgericht erkennen werden, dass wir nicht einmal in die Nähe von Artikel 68 des Grundgesetzes kommen." Artikel 68, der die Vertrauensfrage und die Neuwahlen im Falle ihres Scheiterns regelt, greift nach Ansicht Pestalozzas deshalb nicht, weil in Wahrheit sehr wohl eine Mehrheit im Bundestag Schröder vertraue und dieser gar nicht handlungsunfähig sei. Diese Sicht wird dadurch bestätigt, dass Rot-Grün noch heute Morgen eine ganze Reihe von Gesetzen mit der Kanzlermehrheit durch den Bundestag gebracht hat. Schon die BVG-Entscheidung von 1982 sei aus demselben Grund ein Fehler gewesen, behauptet Pestalozza - damals war die FDP aus der Koalition mit der SPD ausgeschert und zur CDU/CSU gewechselt; sie war zwar innerlich zerstritten, aber trotzdem bereit, den neuen Kanzler zu stützen.
Das morgige Abstimmungsverhalten von Werner Schulz spielt nach Ansicht der Experten nur eine untergeordnete Rolle: "Darauf kommt es nicht an", sagt Musil. "Trüge er zu seinem eigenen Ende als Parlamentarier bei, indem er Schröder das Misstrauen ausspricht", sagt Pestalozza, könne man schon prüfen, ob er nicht das Recht, für das er klagt, selbst aufgegeben habe - aber "durchschlagend" wäre dieses Argument in Karlsruhe kaum.
Aus dem Büro Schulz verlautet derweil, es sei noch nicht entschieden, wie Schulz stimmen wird. Sicher sei allein: "Er wird nicht mit Nein stimmen." Denkbar sei aber auch, dass Schulz gar nicht an der Abstimmung teilnehme.