
Die Lage am Mittwoch Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
An diesem Vormittag wird der AfD-Politiker Stephan Brandner als Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags abgewählt. Die Abgeordneten aller anderen Parteien halten ihn für untragbar - nach Äußerungen, die wahlweise als rassistisch oder antisemitisch empfunden wurden, in jedem Fall aber unseriös waren. Wer gewählt wird, darf auch wieder abgewählt werden.
Die Abwahl eines Individuums, das sich des Amtes als unwürdig erwiesen hat, ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Partei nach parlamentsinternen Verabredungen der Posten zusteht. Man könnte also einen anderen Vertreter nominieren, schmollt aber vorerst lieber, weshalb bis auf Weiteres die stellvertretenden Ausschussvorsitzenden die Leitung übernehmen.
Unter den anderen AfD-Abgeordneten im Rechtsausschuss befindet sich übrigens auch das stellvertretende Mitglied Thomas Seitz. Der plädierte zu Jahresbeginn für eine "wirksame Abschreckung" bei illegaler Einreise: "Dafür darf eine Änderung von Art. 102 GG kein Tabu sein". Gemeint war jener Artikel des Grundgesetzes, der besagt: "Die Todesstrafe ist abgeschafft."
Was ist bloß mit Olaf Scholz geschehen?
Gestern Abend trat ein neuer Politiker auf die politische Bühne: der kämpferische Olaf. Mit seinem Vorgänger, dem eher einschläfernden Scholz (seit zwei Jahrzehnten landesweit bekannt), hatte dieser Scholz nur die Optik gemeinsam.
Das Duell der Kandidatenpaare, zu sehen im traditionell mit technischen Problemen gestarteten Livestream der Partei, zeigte einen extrem angriffslustigen Vizekanzler. Die Verve, mit der er die Arbeit der Großen Koalition verteidigte und die Schärfe, mit der er Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken attackierte, waren erstaunlich.
An der Seite seiner Partnerin Klara Geywitz, die deutlich gelassener blieb, warf Scholz seinen Gegnern beispielsweise vor, auf neoliberale Instrumente beim Klimaschutz zu setzen, was Esken "ziemlich unverfroren" fand. Er unterstellte Esken auch, schlecht informiert zu sein: "Man muss nicht immer alles aufsagen, was man auswendig gelernt hat." Als Walter-Borjans einen Aspekt der Regierungsarbeit lobte, ging Scholz schnippisch dazwischen: "Wieder was nicht schlecht!" Oder er sagte: "Das ist mir jetzt zu ausweichend. Erstens hast du vollkommen recht. Zweitens hat es mit dem, was wir gerade besprechen, nichts zu tun."
Ob dieser engagierte, bisweilen gar freche Scholz nur einen einmaligen Gastauftritt hatte, bleibt vorerst offen. Das Duell aber war von einer chronischen Fuchsigkeit zwischen den Konkurrenten geprägt und machte Unterschiede überdeutlich.
- SPD-Kandidatenduell: Scholz schaltet auf Attacke
Das Unrechtsempfinden des Donald Trump
Heute beginnen in Washington die ersten öffentlichen Anhörungen vor einem möglichen Amtsenthebungsverfahren gegen den US-Präsidenten. Es geht um die Frage, ob Donald Trump die Führung der Ukraine gedrängt hat, Ermittlungen einzuleiten, von denen er sich Schaden für die Demokratische Partei im Allgemeinen und Trumps potenziellen Konkurrenten Joe Biden im Speziellen erhoffte.
Die vom Weißen Haus selbst veröffentlichte Zusammenfassung eines Telefonats mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj legt diesen Verdacht nahe. Die Aussagen eines Whistleblowers sowie Angaben von mit der Ukraine befassten Offiziellen zeichnen längst ein deutliches Bild: Trump machte die Zahlung von Militärhilfen an die Ukraine von deren Bereitschaft zu Ermittlungen abhängig.
Die Ermittlungen werden wohl zahlreiche Belege für ein Verhalten hervorbringen, das als Amtsmissbrauch gewertet werden kann. Das Seltsame an diesem Verfahren ist aber, dass Trump vieles von dem, was ihm vorgeworfen wird, gar nicht bestreitet. Er hält es ganz einfach für normal. Es ist, als würde man einem Mafiaboss, der Schutzgeldzahlungen für die normalste Sache der Welt hält, das Eintreiben von Schutzgeldzahlungen vorwerfen.
- Drohendes Impeachment gegen Trump: Endlich!
Bloomberg, Biden, Warren oder doch Sanders?
Steigt Michael Bloomberg noch in das Rennen der US-Demokraten um die Präsidentschaftskandidatur ein? Der Unternehmer und frühere New Yorker Bürgermeister hätte gegenüber dem Amtsinhaber immerhin einen Vorteil: Trump wäre im Vergleich ein armer Wicht. Sein Vermögen wird auf drei Milliarden Dollar geschätzt. Bloomberg soll 52 Milliarden besitzen. Jeden Tag wird mit Bloombergs Entscheidung gerechnet.
Ich habe den letzten Präsidentschaftswahlkampf in den USA verfolgt und bin mir noch immer sicher: Wäre damals Bernie Sanders Kandidat der Demokraten geworden und nicht Hillary Clinton, wäre Trump nie Präsident geworden. Die nicht unbegründeten Ressentiments gegen das Wall-Street-finanzierte Establishment der Demokraten waren entscheidend für Clintons Niederlage.
Ein Kandidat Bloomberg hätte dasselbe Problem. Er gilt wie Clinton als Teil einer Klasse, die sich weit von der Lebensrealität der normalen, sich vielfach vergessen fühlenden Bürger entfernt hat.
Bernie Sanders ist übrigens immer noch im Rennen. Zwar liegt die ebenfalls sehr linke Elizabeth Warren in Umfragen derzeit leicht vor ihm, aber ich würde ihn keinesfalls abschreiben. Sanders' Feldzug gegen die Milliardäre in der US-Politik (Kandidaten wie Unterstützer) hat trotz seiner 78 Lebensjahre und eines kürzlich erlittenen Herzinfarkts nicht an Kraft oder Glaubwürdigkeit verloren.
- Möglicher Herausforderer Michael Bloomberg: Kann er Trump stoppen - und will er überhaupt?
Gewinnerin des Tages...
...ist Amira Mohamed Ali. Die 39-jährige Bundestagsabgeordnete wurde gestern als Nachfolgerin von Sahra Wagenknecht zur neuen Fraktionschefin der Linken im Bundestag gewählt. Die bekannteste Abgeordnete der Partei wird also durch eine der bislang unbekanntesten ersetzt. Die Rechtsanwältin aus Oldenburg setzte sich gegen Caren Lay durch. Als männlicher Teil der Doppelspitze wurde Dietmar Bartsch im Amt bestätigt.
Es ist leichter, Karl Marx' "Kapital" auswendig zu lernen, als die Machtarithmetik innerhalb der Linken zu erfassen. Schlampig gesprochen bedeutet die Wahl Mohamed Alis, dass das Zweckbündnis der Moderaten (Bartsch) mit den Antikapitalisten (bislang Wagenknecht) fortgesetzt wird. Wobei der Hauptzweck dieses Bündnisses bislang darin bestand, die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger in Schach zu halten. Letztere hätten lieber einen Sieg von Caren Lay gesehen.
Der Kampf geht weiter! Der Machtkampf zumindest.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
- Die Unruhen in Bolivien dauern an: Obwohl das Land eine neue Interimspräsidentin hat, beruhigt sich die Lage keineswegs
- Land Unter in Venedig: An Wasser ist die Lagunenstadt gewöhnt - aber nicht in den derzeitigen Massen
- Greta Thunberg verachtet Donald Trump: Vor ihrer Abreise aus den USA hatte die Klimaaktivistin dennoch ein Kompliment für ihn parat - allerdings ein vergiftetes
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
- Fünf Regeln für Anleger: So vermehren Sie Ihr Geld trotz Niedrigzinsen
- Liebesfrust in Ostdeutschland: Gibt es im ganzen Osten keine Frau, die zu ihm passt?
- Augenzeugenberichte aus Kaschmir: "Dann schießt du irgendwann"
- SPD-Hoffnung Norbert Walter-Borjans: Der Nowabofakis vom Rhein
- Spektakulärer Fall in Bremen: Wie ein Hauptkommissar den Carmen-Mörder fand - nach 40 Jahren
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Markus Feldenkirchen