
Die Lage am Morgen Hoffen auf die Luftbrücke nach Afghanistan

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
wir blicken heute einmal mehr nach Afghanistan: Es geht um die schwierige Rettungsaktion der Bundeswehr für deutsche Staatsbürger und afghanische Helfer, um die Bedeutung des Afghanistan-Desasters für Angela Merkel und die ersten Äußerungen von US-Präsident Joe Biden seit der Taliban-Machtübernahme.
Bundeswehr startet Rettungsversuch
Sie wollen nur raus, doch die Evakuierung der letzten in Kabul verbliebenen Deutschen und zahlreicher früherer einheimischer Helfer ist ein heikles Unterfangen. Zunächst kreiste eine Transportmaschine der Bundeswehr am Montag stundenlang über dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt und musste schließlich Richtung Usbekistan abdrehen. Eine zweite konnte schließlich nach etlichen Warteschleifen landen.

Hunderte Menschen rennen neben einer rollenden Maschine der US-Luftwaffe
Foto: Uncredited / dpaDass die Luftwaffen-Flieger nicht ohne Weiteres in Kabul würden aufsetzen können, war Stunden zuvor klar. Unfassbare Bilder gingen um die Welt, die das ganze Versagen des Westens symbolisieren: Tausende Menschen versuchen auf dem Rollfeld des Flughafens verzweifelt, einen Platz in bereitstehenden Flugzeugen zu ergattern. In einem Video ist zu sehen, wie Hunderte neben einer rollenden Maschine der US-Luftwaffe herlaufen, Dutzende klammern sich am Fahrwerk fest. Andere Aufnahmen sollen zeigen, wie Menschen aus großer Höhe von einem Flugzeug in den Tod stürzen.
In der Nacht schienen zumindest Teile des Flugfeldes geräumt, aber wohl auch angesichts der volatilen Lage hob die erste deutsche Maschine schon nach weniger als einer Stunde wieder Richtung Taschkent ab – offenbar mit nur einer Handvoll Passagieren an Bord, obwohl eigentlich Dutzende deutsche Staatsbürger und einheimische Helfer auf ihre Rettung warten.
Doch am Flughafen habe sich wegen der verschärften Sicherheitslage nur eine »begrenzte Anzahl von Personen« für die Evakuierung bereithalten können, so hatte es die Kanzlerin den Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen nach SPIEGEL-Informationen am Montagnachmittag mitgeteilt.
Wie mein Kollege Matthias Gebauer erfuhr, unterrichtete Angela Merkel die Abgeordneten darüber, dass amerikanische und türkische Truppen offenbar nur noch eine »Insel« im militärischen Teil des Flughafens kontrollieren, die Taliban hätten den Zugang zum Flughafen von außen abgeriegelt, es sei zu gefährlich, deutsche Staatsbürger oder afghanische Schutzbedürftige zum Flughafen zu bitten.
Selbst wenn die Flugzeuge endlich landen können, wird es also schwierig, die zu rettenden Menschen an Bord zu bekommen. Nun sollen, so Matthias' Informationen, die Fallschirmjäger der Bundeswehr, die mit der Transportmaschine in Kabul eingeflogen sind, in Zusammenarbeit mit den Amerikanern »Handlungsoptionen« prüfen und »nach einer Lageberuhigung« möglichst viele Personen für die nächsten Flüge nach Usbekistan einsammeln.
Aber beruhigt sich Lage überhaupt? Kann die Bundeswehr die Menschen unbehelligt von den Taliban zum Flughafen bringen? Angela Merkel hat die Hoffnungen auf eine erfolgreiche Evakuierungsaktion bereits gedämpft: »Das haben wir leider nicht mehr voll in der Hand.«
Der Grund dafür ist offensichtlich: Die Bundesregierung – die Kanzlerin, der Außenminister, die Verteidigungsministerin, der Innenminister – sie alle haben zu lange gezögert, haben den Vormarsch der Taliban unterschätzt, haben geglaubt, es bleibe genug Zeit, um alle Staatsbürger und Ortskräfte in Ruhe auszufliegen. Nun könnte es zu spät sein.
Heute werden die Bundeswehrmaschinen wieder nach Kabul fliegen und wenn möglich die ersehnte Luftbrücke nach Taschkent einrichten. Hoffentlich werden die Maschinen Afghanistan dann voll besetzt wieder verlassen.
Unrühmliches Ende der Merkel-Ära
Geht bei der deutschen Rettungsaktion etwas schief, kommen womöglich Menschen ums Leben, wäre das auch eine Katastrophe für Angela Merkel. Stünde sie nicht ohnehin kurz vor dem Ende ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft, wäre es womöglich sogar ein Rücktrittsgrund.

Angela Merkel bei ihrer Pressekonferenz zur Lage in Afghanistan
Foto: Felix Zahn/photothek.net / imago images/photothekAber auch so: Das Afghanistan-Desaster ist auch Merkels Desaster. Die chaotischen, dramatischen Bilder aus Kabul werden mit ihr verbunden bleiben – als unrühmlicher Abschluss ihrer Amtszeit.
Merkel räumte am Montag ein, dass Deutschland und seine Verbündeten in Afghanistan mit dem Aufbau demokratischer Strukturen gescheitert sind. Und sie übernahm »auch die Verantwortung«, die jüngste Entwicklung in Afghanistan, die blitzschnelle Rückeroberung des Landes durch die Taliban, falsch eingeschätzt zu haben.
Es dürfte ihr leichter fallen, diese Verantwortung zu übernehmen, nun, da ihre politische Karriere ohnehin zu Ende ist. Genauso, wie es ihr leicht fällt, die Aufarbeitung des Scheiterns am Hindukusch mit all den sich anschließenden Fragen nach Sinn und Unsinn von Auslandseinsätzen in die Zukunft zu verschieben (wenn sie nicht mehr Kanzlerin ist). Merkel will jetzt nur noch die retten, die noch zu retten sind.
Und was für sie selbst noch zu retten ist.
Eine Mission, zwei Ziele
Anders als Merkel steht Joe Biden noch ziemlich am Anfang seiner Amtszeit – und (wohl auch) deswegen klang der US-Präsident ganz anders als die Kanzlerin, als er sich nun zum ersten Mal seit der Machtübernahme der Taliban zu Wort meldete: Er drohte der Terrormiliz mit Vergeltung, sollten ihre Kämpfer US-Bürger in Kabul angreifen; er warf den afghanischen Streitkräften vor, das Land kampflos den Islamisten überlassen zu haben; und er verteidigte vehement seine Entscheidung zum Abzug.

US-Präsident Joe Biden
Foto: Evan Vucci / APAber es ist nicht nur der Ton, die fehlende Demut, die mir im Kontrast zur deutschen Regierungschefin besonders auffällt – sondern ein bestimmter Satz: Das Ziel der USA in Afghanistan sei nie der Aufbau eines Staates gewesen, sondern allein der Kampf gegen den Terrorismus, betonte Biden.
Angela Merkel sagte am Montag im CDU-Präsidium nach Angaben von Teilnehmern hingegen dies: »Wir wollten ein Land aufbauen mit demokratischer Struktur, das ist nicht gelungen.«
Wenn Verbündete 20 Jahre lang so unterschiedliche Vorstellungen vom Ziel einer gemeinsamen Militärmission haben, dann muss man sich nicht wundern, wenn dieser Einsatz zu keinem glücklichen Ende kommt.
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