Die Lage am Montag Liebe Leserin, lieber Leser,

es ist gut so. Es geht nicht an, dass jemand müde und lustlos seine erneute Kandidatur erklärt, uninspiriert durch den Wahlkampf schleicht, die Herausforderung von Rechts weitgehend ignoriert und damit ein gutes Wahlergebnis einstreicht. Angela Merkel hat diese Niederlage verdient, es ist ihre Niederlage, auch in dieser Höhe. Diesmal ist sie mit ihrem Politikansatz gescheitert, ihrem Projekt. Das hat sie vor vielen Jahren erfunden. Es hieß: die Regierung der Stille. Niemanden aufregen, alle beruhigen, keine großen Debatten, keine großen Veränderungen, Konsens, möglichst breit, am liebsten in einer Großen Koalition.

Das Ergebnis jetzt: Die Große Koalition ist abgewählt, das Land erlebt Streit wie lange nicht mehr, der deutsche Grundkonsens, dass die Lehren aus dem Nationalsozialismus normativ sind für die Gesellschaft, wird demnächst auch aus dem Bundestag heraus angegriffen. Merkel hat das Gegenteil von dem bewirkt, was sie angestrebt hat. Ein Desaster.

Merkel hat ihr eigenes Projekt herausgefordert, indem sie fast eine Million Flüchtlinge ins Land gelassen hat. Das war ehrenhaft, das war und bleibt richtig. Ihr Versagen ist, dass sie auch danach dachte, sie könne mit der Regierung der Stille fortfahren. Sie wollte sich durchmogeln, wie so oft, wollte mit Schweigen, Umarmen und Wegschauen durchkommen. Es ist ihr diesmal nicht gelungen. Irgendwie ist das auch tröstlich.

Natürlich ist es eine Katastrophe, dass die AfD knapp 13 Prozent der Stimmen gewonnen hat. Aber davon abgesehen ist das gar kein so schlechtes Wahlergebnis. Sechs Gründe:

  • 1. Weil die SPD so schlecht abgeschnitten hat, geht sie nicht mehr in die Große Koalition. Das ist ein Segen. Die liberale Demokratie braucht eine starke Opposition von einer liberalen Partei.
  • 2. Eine neue Konstellation ist möglich, schwarz-gelb-grün, Jamaika. Das lässt immerhin auf neue Impulse hoffen: vor allem auf eine Modernisierung der deutschen Wirtschaft mit grünem Einschlag.
  • 3. Merkel zeigte zuletzt Tendenzen der Verköniglichung. Dieses Wahlergebnis und eine Koalition, die nicht leicht zu führen sein wird, könnten sie demütiger machen. Vielleicht denkt sie sogar mal kritisch über die Regierung der Stille nach.
  • 4. Die Elefantenrunde gestern Abend hat gezeigt, dass Martin Schulz eher ein Oppositions- als ein Regierungspolitiker ist. Er polterte ungehemmt los, stärker als im Wahlkampf, als er noch dachte, er könne ein Regierungsamt bekommen. Das kam gestern etwas plötzlich, aber ein emotionaler, lautstarker Mann wie er wird nun dringend gebraucht, als doppelter Opponent: gegen die Regierung und gegen die AfD. Auch auf die Oppositionspolitikerin Andrea Nahles darf man sich freuen.
  • 5. Je größer die AfD-Fraktion, desto mehr fürchterliche Leute kommen in den Bundestag. Da wird es schwer, die Flügel zusammenzuhalten. Interne Kämpfe werden nicht lange auf sich warten lassen. Mit Entzauberung ist zu rechnen, vielleicht sogar Spaltung.
  • 6. Sogar die Aussicht, dass Merkel wohl Bundeskanzlerin bleiben wird, hat einen Vorteil. Im Ausland genießt sie hohes Ansehen, in den Zeiten von Trump wird sie mit all ihrer Erfahrung als Spitzendiplomatin gebraucht.

Es könnte eine interessante Legislaturperiode werden.

Heute werden sich die Spitzengremien aller Parteien in Berlin treffen, es wird jede Menge Pressekonferenzen geben. Es wird ein spannender Tag. Und um 15 Uhr können Sie schon den neuen SPIEGEL in der digitalen Version lesen. Ab Dienstag liegt er am Kiosk.

Verlierer des Tages...

Foto: POOL/ REUTERS

... sind Angela Merkel und Martin Schulz, das liegt nahe. Für mich sind sie es nicht nur wegen der miserablen Wahlergebnisse, sondern auch wegen je eines Satzes, den sie gestern Abend gesagt haben.

Angela Merkel: "Ich bin nicht enttäuscht."

Martin Schulz: "Meine Stimmung ist gut."

Angela Merkel, die mehr als acht Prozent verloren hat, ist nicht enttäuscht. Warum nicht? Weil sie minus zwölf Prozent erwartet hat? Weil es ihr egal ist, solange sie Bundeskanzlerin bleiben darf?

Martin Schulz, der das schlechteste Ergebnis der SPD in der Bundesrepublik eingefahren hat, ist guter Stimmung. Warum? Weil er Einstelligkeit vermieden hat? Weil es ihm egal ist, solange er Parteivorsitzender bleiben darf?

Wahlabende sind traditionell keine Sternstunden der Ehrlichkeit. Es geht um Taktik, es geht darum, ich sag es mal vulgär, weil es auch vulgär ist, sich als coole Sau zu präsentieren. Aber manchmal ist das nur peinlich, und es ist so überflüssig. Ich bin traurig - das wäre ein Satz, den niemand einem Verlierer übelnehmen könnte. Er wäre so menschlich wie wahr.

Missbrauchtes Referendum

Foto: ARI JALAL/ REUTERS

Es gibt eine Welt außerhalb Deutschlands, selbst am Tag nach der Wahl. Die Kurden im Irak sollen heute darüber abstimmen, ob sie in einem eigenen Staat leben wollen. Es geht dabei nicht nur um Unabhängigkeit, es geht leider auch darum, sich jüngst eroberte Gebiete einzuverleiben und dem Präsidenten Masoud Barzani weitere Amtszeiten zu verschaffen. Dieses Referendum ist ein missbrauchtes Referendum. Lesen Sie dazu die Geschichte "Eine Familiensache" im SPIEGEL.

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.

Herzlich,

Ihr Dirk Kurbjuweit

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