
Die Lage am Morgen Die Vorliebe des Herrn Laschet für seltsame Orte

Er will doch nur boxen
Dies ist die Woche, in der eine Partei nach der anderen den sogenannten Wahlkampfauftakt begeht. Die Symbolik ist auf jeweils eigene Weise interessant.
Die grünen Parteichefs, um die herum die Frage kreist, wie gut sie sich noch verstehen, traten am Montag in Hildesheim so einträchtig auf, dass im SPIEGEL von einer »grünen Harmonielehre « die Rede war.
Die Spitzenkandidaten der AfD, Timo Chrupalla und Alice Weidel, begaben sich Dienstag nach Schwerin. Chrupalla trug eine Malermontur, aber nicht, um sich mal nützlich zu machen. Vermutlich wollte er das Gegenteil dessen beweisen, was seit einer Weile über ihn geraunt wird: dass er nämlich, seit er in der Partei aufgestiegen ist, seine Herkunft vergesse , obwohl er eben wegen dieser Herkunft gefördert worden sei.

Angeschlagen: Armin Laschet im Jugend-Boxcamp
Foto: POOL / REUTERSArmin Laschet wiederum suchte sich gestern in Frankfurt am Main ausgerechnet ein Boxcamp für den Auftakt seiner Wahlkampftour aus. Rheinländer sind ja dafür bekannt, für einen Witz, auch auf eigene Kosten, sehr weit zu gehen – aber so weit?
Warum halten ihn seine Berater nicht von solchen Ideen ab? Was haben die mit ihm vor? Den gestern durch neue Zahlen belegten Abstieg energisch weiterbefördern? Vor allem aber: Warum verfügt ein Mann, der Kanzler werden will, über so wenig Einsicht in die eigene Lage, dass er nicht selbst sieht, was für einen Eindruck Pressekonferenzen vor Schrotthaufen bewirken, beziehungsweise Auftritte als Angeschlagener an einem Ort, an dem rituell K.-o.-Runden zelebriert werden? Wie will er dieses Land schützen und das Erforderliche anpacken, wenn er über so wenig Selbstschutz verfügt?
Das gesamte Auftakt-Getue dieser Tage mutet ohnehin seltsam an, denn gewählt werden kann doch schon sehr bald. Einen bundesweit einheitlichen Beginn der Briefwahl gibt es zwar nicht; diejenigen, die aber bereits einen Antrag auf Briefwahl gestellt haben, könnten bereits am 16.8. das Glück haben, die schwierige Entscheidung hinter sich zu bringen. Wegen der Coronakrise wird erwartet, dass es diesmal mehr Briefwähler geben wird als sonst. Wenn dies zutrifft, wird die Stimmung dieser Tage das Ergebnis deutlich beeinflussen.
Welchen Ort wird Laschet als Nächstes aussuchen, um Wählerinnen und Wähler zu verwundern? Eine Mülldeponie? Einen brennenden Wald? Einen Schlachthof von Tönnies?
SPIEGEL-Umfrage zur Kanzlerkandidatur: Unionswähler wollen Söder statt Laschet
Deutschland steuert auf eine neue Polarisierung zu
Mit der Coronakrise kamen viele Probleme und viele neue Worte in unser Leben. Mir jedenfalls war der Begriff der »Impfmüdigkeit« vorher nicht geläufig, und ich kann mich auch immer noch nicht an ihn gewöhnen. Er würde doch bedeuten, dass man sich erst dauernd und gern impfen ließ, dieses Verhalten dann aber irgendwann aufgab. Der ebenfalls neue Begriff der »Impfskepsis« ist zwar nicht schöner, aber zutreffender.
Diese Skepsis geht inzwischen so weit, dass Deutschland jetzt erstmalig Lieferungen eines mRNA-Impfstoffs an andere EU-Mitgliedstaaten weitergegeben hat, und zwar die Chargen von Moderna, die für die ersten beiden Augustwochen vorgesehen waren.
Die Sorge vor einer vierten Welle ist somit durchaus berechtigt. Genauso berechtigt aber wäre eine Sorge vor einer erneuten Aufspaltung der Gesellschaft – diesmal in Geimpfte und Ungeimpfte. Spätestens seit der Bund-Länder-Konferenz vorgestern müsste Ungeimpften klar geworden sein, dass schwierige Zeiten auf sie zukommen.

Massenproteste gegen eine Verschärfung der Coronaregeln in Paris
Foto:Adrienne Surprenant / dpa
Doch wenn der Druck zu groß wird, steigt die Abwehr. Ich weiß, dass ich gestern Ähnliches geschrieben habe, aber der Blick nach Frankreich zeigt die Dringlichkeit des Themas: Wie viel Druck ist nötig, wann bewirkt er das Gegenteil? Präsident Emmanuel Macron hat mit Druck sowohl die Impfquote als auch den Widerstand erhöht.
Wer eine Polarisierung in Deutschland aufhalten will, sollte sich die Argumente derjenigen anhören, die sich nicht impfen lassen wollen, und zwar nicht einfach so, sondern mit dem Vorsatz, daraus auch lernen zu wollen. Man muss sie ja nicht übernehmen, aber vielleicht ergeben sich Erkenntnisse, die sich auszahlen.
Meinungen lassen sich erst dann bewerten, wenn man sie kennt. Das gilt auch für Meinungen von Impfskeptikern.
Studie zu Coronaimpfungen: Wirkt Moderna besser gegen Delta als Biontech?
Die deutsche Verantwortung für Afghanistan
Selbstverständlichkeiten sollte man nicht melden, hieß es auf der Journalistenschule. Die Überschrift »Deutschland setzt Abschiebungen nach Afghanistan aus« schafft es aber heute auf Seite 1 der »FAZ«, und das liegt daran, dass die Aussetzung der Abschiebung angesichts der Lage in Afghanistan zwar eine Selbstverständlichkeit sein sollte, der deutsche Innenminister Horst Seehofer das aber bis gestern Mittag anders gesehen hat. Bis dahin sah es so aus, als wolle er an der üblichen Abschiebepraxis festhalten, dann erst entschied er sich um.
Natürlich wird es ein Thema bleiben müssen, wie mit Afghanen, die straffällig geworden sind, hierzulande umzugehen ist, aber die gestrige Entscheidung war überfällig. Der Abzug deutscher Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan hat die Verantwortung für das Land nicht verringert, sondern vergrößert.
Seehofers Abschiebestopp nach Afghanistan: Kehrtwende in 20 Minuten
Gewinnerin des Tages…

Tränen in Tokio: Athletin Schleu
Foto:IVAN ALVARADO / REUTERS
...ist die Fünfkämpferin Annika Schleu, die zu einer der großen Verliererinnen der Olympischen Spiele zählt. Vor laufenden Kameras saß sie weinend auf dem ihr zugelosten Pferd, das nicht springen wollte, immer wieder schlug sie mit der Gerte auf das Pferd ein. Die Bilder von ihr gingen um die Welt, sie erntete einen gewaltigen Shitstorm. In der aktuellen Ausgabe der »Zeit«, die heute erscheint, tut sie das, was jetzt richtig ist: Sie stellt sich der Kritik, äußert sich nachdenklich, auch selbstkritisch. Im Rückblick wünschte sie sich, »ruhiger und besonnener« reagiert zu haben.
Auf die Frage, warum sie immer wieder versuchte, das Pferd zum Sprung zu zwingen, antwortet sie : »Früher wurde ich von meinen Trainern für meine Zurückhaltung im Umgang mit den Pferden kritisiert. Es hieß: Sei konsequenter, sei bestimmter, zeig, wo es langgeht! Ich dachte in der Situation, wenn ich jetzt abgrüße, dann bestätige ich den Eindruck, zu inkonsequent zu sein. Also versuchte ich es wieder und wieder.«
Um einen Eindruck nicht zu erwecken, riskierte sie, den schlimmsten Eindruck zu hinterlassen. Das wird ihr nie wieder passieren.
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Eskalation in Afghanistan: Erdoğan schlägt persönliches Treffen mit Talibanchef vor. »Vielleicht werde ich sogar die Person treffen, die ihr Anführer ist«: Der türkische Präsident Erdoğan will das direkte Gespräch mit den Taliban suchen. Im Fokus soll Kabuls Flughafen stehen
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer