
Die Lage am Morgen Wann verlässt Olaf Scholz Twitter?

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um das Verhältnis von Annalena Baerbock und Robert Habeck, um den Schlingerkurs von Elon Musk und die Freuden eines Schülerlebens ohne WhatsApp.
Das grüne Trennungsjahr
Heute stimmt der Bundestag über die Laufzeit der verbleibenden drei Atomkraftwerke in Deutschland ab. Das Machtwort von Olaf Scholz – die Meiler bleiben noch bis April 2023 am Netz – muss demokratisch legitimiert werden. Eine Mehrheit dafür ist so absehbar wie die Tatsache, dass die Opposition mit Nein stimmen wird.

Annalena Baerbock, Robert Habeck (am 9. November)
Foto: Michael Kappeler / dpaAber es melden sich auch Kritiker in den Reihen der Ampelkoalition: »Es gibt für mich keinen Grund und ich sehe keine Notwendigkeit, dem zuzustimmen«, sagte der junge Grünen-Abgeordnete Julian Pahlke meinem Kollegen Serafin Reiber. Ein gutes Dutzend weitere Grüne sollen ebenfalls entschlossen zu einem Nein sein.
Das Atomthema hat die Grünen enorm aufgewühlt. Aber welche Rolle der Streit ganz oben in der Machtstruktur spielt, das hat unser Grünenteam um Marina Kormbaki für die neue SPIEGEL-Ausgabe recherchiert: In der schwierigen Beziehung zwischen Außenministerin Annalena Baerbock und Klimaminister Robert Habeck wurde der Atomstreit offenbar zum politischen Kampfmittel. Das einstige Traumduo an der Grünenspitze hatte sich im Wahlkampf entfremdet. Heute sind die Regierungsmitglieder Habeck und Baerbock Rivalen geworden, die schon auf die nächste Kandidatenkür schielen und jede politische Entscheidung aus dieser Sicht beäugen. Auch die Frage der AKW-Laufzeiten. Das Fazit unseres Teams: »Habeck und Baerbock reden nicht schlecht übereinander. Sie reden einfach gar nicht mehr übereinander.« Wie das wohl weitergeht?
Wer mag die »Klimakleber«?
Verfolgen Sie noch die Klimakonferenz in Scharm al-Scheich? Heute reist US-Präsident Joe Biden an. Es ist zu befürchten, dass die Aufmerksamkeit erlahmt. Verständlicherweise, denn was in Ägypten los ist, lässt sich nur durch Berichte wie die meiner unermüdlichen Kollegen Jonas Schaible und Susanne Götze von vor Ort halbwegs nachvollziehen.

Klimakonferenz in Ägypten
Foto: Gehad Hamdy / dpaZwei Tage durfte ich diese Woche im Gefolge von Olaf Scholz durch die babylonisch anmutenden Menschenmengen und das Riesengelände der Konferenz irren. Und ich finde, Jonas Schaible hat die Lage in seinem neuesten Bericht sehr treffend beschrieben : Die Gluthitze draußen, die klimatisierte Eiseskälte drinnen in den Hallen, der Müllberg auf dem Gelände, der Abgaswahnsinn drumherum, die Lobbyisten- und Sponsoren-Dominanz und das »Greenwashing«, die ökologische Heuchelei vieler Staaten.
Da wünscht man sich, der Überwachungsstaat Ägypten hätte die Klimaprotestler nicht komplett unter seiner Knute, und die Leute von der »Letzten Generation« kämen mit ihrer Tomatensuppe nah genug etwa an den saudi-arabischen Pavillon heran.
Allerdings ergibt eine neue Umfrage von Civey im Auftrag des SPIEGEL, wie gering der Rückhalt für diese Protestler in Deutschland ist. 86 Prozent der Befragten finden, dieser Aktivismus gehe zu weit. Die Ablehnung ist am größten bei Leuten über 65, aber auch bei 18- bis 29-Jährigen lehnen knapp drei von vier Befragten das Straßenkleben ab.
Dabei finden nur 29 Prozent der Befragten, die Ampel tue genug gegen den Klimawandel. Inhaltlich könnte es also theoretisch große Unterstützung für die Protestler geben. Ob die sich für solche Zahlen interessieren?
SPIEGEL-Umfrage: Große Mehrheit lehnt aktuelle Protestformen der Klimabewegung ab
Vögelein, Vögelein, tanz mit mir!
Es sind Chaostage bei und auf Twitter. Kurz nachdem der Milliardär Elon Musk den Kurznachrichtendienst ohne großen Plan kaufte, flohen Werbekunden in Scharen, wurden erst massenhaft Leute gefeuert und einige dann hektisch wieder eingestellt.

Elon Musk
Foto:DADO RUVIC / REUTERS
Auf Twitter selbst richtete Musk die größte Unruhe an mit dem Beschluss, dass der »blaue Haken«, an dem man die Authentizität von Twitter-Profilen erkennt, kostenpflichtig wird. Seither wird mit dem früheren Gütesiegel viel Schindluder getrieben. Da twittert ein falscher Papst Unsinn über die Bibel, ein falscher Joe Biden über seine Sexpraktiken.
Okay twitter blue has been such a success I need to do a thread. Feel free to add to the 🧵on the great launch of this product pic.twitter.com/cx1bEFp9Yn
— Stop Cop City (@JoshuaPHilll) November 10, 2022
So unterhaltsam diese Spielchen sind, dahinter stehen ernste Probleme. Schon als das Twitter-Management es noch ernsthaft versuchte, waren Desinformation und Hass auf der Plattform kaum zu zügeln. Jetzt scheint Musk die Zügel freiwillig aus der Hand zu geben.
In Deutschland hat die Debatte, ob Politikerinnen und Politiker Twitter nun verlassen sollten, noch keine Fahrt aufgenommen. Viele nutzen den Dienst ohnehin nur für Quasi-Pressemitteilungen über »spannende Gespräche« hier oder »guten Austausch« dort.
Doch was passiert, wenn erst ein falscher Bundeskanzler auf Twitter verkündet, morgen endlich Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken? Oder direkt nach Russland, an den Finnischen Meerbusen, LOL, zwinker?!
Der echte Olaf Scholz twittert so zahm und bürokratisch, und sicher erst nach Freigabe durch ein Dutzend Augenpaare im Bundespresseamt, dass solche Ausraster leicht als falsch erkennbar sein dürften. Aber es geht ja auch subtiler. Und was ist mit Verlautbarungen falscher Polizeidienststellen ? Terrorwarnungen falscher Einsatzkommandos? Und wer hört auf echte Warnungen von Accounts, die keine blauen Haken haben?
Die Fake-Profile bringen eine neue Unsicherheit und Gefahr in die Kommunikation verschiedenster staatlicher Stellen.
Zwei Wochen nach dem 44-Milliarden-Dollar-Deal: Elon Musk schließt Twitter-Pleite nicht aus
Arm, ärmer, Lehrer
Heute findet in Düsseldorf ein deutschlandweiter Schulleiterkongress statt. Die Lehrergewerkschaft VBE will eine Umfrage zur Berufszufriedenheit und zu Gewalt gegen Lehrkräfte vorstellen. Man ahnt Schlimmes über die Resultate. Es folgt ein Vortrag von Eckart von Hirschhausen, Arzt und Comedian, über »Gesunde Erde, gesunde Menschen«, und in der Tat sind Lehrer auch nur Menschen, das weiß eine Lehrerinnentochter sehr gut.

Schulkinder in Kiel
Foto: Gregor Fischer / dpaWer will heute noch unterrichten? In Zeiten von Handy-Dauerpräsenz, Essstörungen, Cybermobbing oder traumatisierten Kindern aus Syrien oder der Ukraine? Die Lehrer von heute verdienen größten Respekt.
Vielleicht sollte man aber auch fragen, wer heute noch Schülerin sein will? Meine Kollegin Judith Horchert schildert in ihrer Elternkolumne die Zustände in Whatsapp-Klassenchats. Und da denkt man dankbar zurück an die alten Zeiten, als man sich als Nerd den ganzen Nachmittag in der Stadtbücherei Siegburg verkriechen konnte, ohne die Sorge, ob gerade jemand ein peinliches Foto von einem irgendwo postet. Am nächsten Morgen dann wieder Mathe bei Frau Hachtel.
Ein Trost vielleicht für die Gemobbten von heute: Beim Abitreffen in 25 Jahren ist alles vergessen und alle sind riesig nett. Im neuen Whatsapp-Chat unseres Jahrgangs geht es auch manierlich zu.
Cybermobbing, Spam und Trash: Ein Albtraum namens Whatsapp-Klassenchat
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
Selenskyj spricht von 41 befreiten Orten – und 170.000 minenverseuchten Quadratkilometern: »Man wird sich ausruhen können«: Die ukrainische Armee erwartet ein Abflauen der Kämpfe im Winter. In den befreiten Gebieten beginnt die Minenräumung. Und: Die USA liefern Luftabwehrsysteme. Das geschah in der Nacht.
Kiews Schutzschild gegen Russlands Luftangriffe wächst: In der Ukraine sind die ersten Einheiten des Nasams-Systems eingetroffen. Dass diese Flugabwehrwaffen langfristig ein Gewinn für Kiew sein könnten, liegt vor allem an der Munition.
Kammerspiel ohne Putin: Der Kreml hat einen inszenierten Dialog zum Rückzug russischer Truppen aus Cherson veröffentlicht. Akteure: der Verteidigungsminister und der Kommandeur der Streitkräfte. Nur Putin fehlt.
Wie Putin ukrainische Städte unbewohnbar machen will: Seit Anfang Oktober greift Russlands Luftwaffe verstärkt Ziele der kritischen Infrastruktur an. Das Stromnetz der Ukraine soll zerstört werden. Was genau bezweckt Wladimir Putin damit und wie reagieren die Menschen in der Ukraine?
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Gewinnerin des Tages…

Ulrike Malmendier
Foto: Christian Spicker / IMAGO… ist Ulrike Malmendier. Die Ökonomin und neueste »Wirtschaftsweise«, Jahrgang 1973, schildert im SPIEGEL-Gespräch ihre Positionen zur Finanzpolitik so klar, dass auch Laien sie gut verstehen können. Malmendier spricht sich für Eurobonds aus, also die gemeinschaftliche Verschuldung der EU-Staaten, weil die Eurozone darunter leide, dass »jedes Land immer noch seine eigene Haushaltspolitik betreibt. Solange das so bleibt, wird die Währungsunion immer wieder davon bedroht sein auseinanderzubrechen«, sagt sie.
Wie man aus Regierungskreisen hört, war es nicht leicht, die Professorin von der US-Universität Berkeley als Wirtschaftsweise zu gewinnen. Der Ex-Wirtschaftsminister Peter Altmaier soll schon bei ihr abgeblitzt sein. Im Interview verrät Malmendier nun auch, welches Regierungsmitglied sie zum Eintritt in den Sachverständigenrat überzeugen konnte.
Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier: »Diese Zeit wird bei jungen Menschen extreme Spuren hinterlassen«
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Bundestag beschließt teilweise Wahlwiederholung in Berlin: Die Bundestagswahl 2021 verlief in Berlin mitunter chaotisch. In mehr als 400 Wahlbezirken muss nun erneut abgestimmt werden.
Murdoch-Medienimperium geht deutlich auf Distanz zu Trump: Donald Trump war der Darling der Murdoch-Medien – von Fox News bis zu den Printprodukten: Doch nach den ernüchternden Zwischenwahlen zeichnet sich ein Kurswechsel in dem konservativen Konzern ab.
Polizist nach Messerangriff in Brüssel gestorben: In Belgiens Hauptstadt Brüssel sind zwei Polizisten von einem Unbekannten mit einem Messer attackiert worden. Einer der Beamten erlag seinen Verletzungen. Die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft hat sich eingeschaltet.
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
Ihr wunder Körper: Eine junge Frau hat Schmerzen in der Schulter. Sie sucht Wochen, Monate, Jahre nach Hilfe. Erst durch eine Operation erfährt sie von ihrer Krankheit, die weitverbreitet ist, deren Namen sie aber noch nie gehört hat.
Auf diese Klimaheuchler verlassen sich die Klimaretter: Statt Wasser gibt’s Cola, Klimaanlagen lassen die Verhandler in der Wüste frieren – und die Anreise gelingt eigentlich nur im Flugzeug: Die Klimakonferenz scheitert am eigenen Anspruch, gegen Ökolügen vorzugehen.
»Ihr wurdet gewarnt«: Zeitweise war die Kryptobörse FTX 32 Milliarden Dollar wert, nach ihrem Crash haben Anleger nun ein Problem. Die Szene ist in Aufruhr: Ist das der Lehman-Moment für die Blockchain-Währungen? Oder ein Neuanfang?
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Melanie Amann