Christoph Hickmann

Die Lage am Morgen Die Windmacher

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,

heute geht es um die seltsame Entspanntheit im Regierungsviertel, eine Verhaftung, die nicht stattgefunden hat und die magischen Zahlen vier oder fünf.

Nur keine Panik

Gestern ging es an dieser Stelle mit dem Thema Banken los. Heute fange ich wieder damit an, auch wenn ich mir Schöneres, vor allem Unterhaltsameres vorstellen könnte. Sie merken: Die Sache beschäftigt mich.

Auf fünf vor zwölf steht die Uhr offensichtlich nicht. Aber wo steht sie dann?

Auf fünf vor zwölf steht die Uhr offensichtlich nicht. Aber wo steht sie dann?

Foto: DENIS BALIBOUSE / REUTERS

Was mich gerade etwas misstrauisch macht: dass sie die Bundesregierung bislang offenbar kaum beschäftigt – oder jedenfalls nicht in einer Art und Weise, von der meine Kolleginnen, Kollegen und ich viel mitbekämen (und wir versuchen berufsmäßig jeden Tag, Dinge mitzubekommen, die wir eigentlich nicht mitbekommen sollen). In der Schweiz muss eine Großbank erst gestützt und dann gerettet werden – und in Berlin-Mitte bleibt es ruhig. Keine Hintergrundgespräche zum Thema, keine Sondersitzungen, zumindest keine öffentlich sichtbaren.

Das muss nicht schlecht sein, Hektik erzeugt bekanntermaßen Hektik, Ärztinnen und Ärzte sollten in Krankenhäusern auch nicht über die Gänge rennen. Selbst wenn sie nur ganz dringend zum Snackautomaten wollen, würden gleich alle denken, dass da gerade jemand kollabiert ist. Auch Banken können kollabieren, und die Grundnervosität in der Finanzwelt scheint mir noch mal um einiges höher zu liegen als in durchschnittlichen Krankenhäusern.

Trotzdem bleibt bei mir ein Bauchgrummeln zurück. Ich habe länger darüber nachgedacht, woher es kommt, und ich glaube, es hat seinen Ursprung in den letzten Jahren. In all dem, was ich nicht kommen gesehen habe.

Den Brexit hielt ich für genauso unwahrscheinlich wie die Wahl Donald Trumps. Eine weltumspannende Pandemie? Noch eine Woche, bevor Schulen geschlossen und Spielplätze mit Flatterband abgesperrt wurden, stand ich auf einer Party und machte Witze darüber, dass man sich demnächst bestimmt nicht mehr treffen dürfe. Was haben wir gelacht.

Und ja, ich klebte viel zu lang an der Hoffnung, dass Russland die Ukraine am Ende doch nicht angreifen würde. Das war der größte, schlimmste Irrtum.

Ich habe derart oft danebengelegen, dass ich mittlerweile eine leichte Paranoia mit mir herumtrage und ständig glaube, etwas zu übersehen. Selbst, wenn es nichts zu übersehen gibt.

Vielleicht wird die Bankensache tatsächlich nicht zur nächsten Großkrise? Das wäre schön. Und falls es doch so kommt, könnte ich diesmal zumindest behaupten, ich hätte es ja vorher gesagt. Oder zumindest die Frage aufgeworfen. Für einen berufsmäßigen Besserwisser, vulgo Journalisten, wäre das gar nicht mal so wenig.

Ein Lob der Langeweile

Während ich an dieser Lage schreibe, ist Donald Trump noch nicht verhaftet worden – was insofern bemerkenswert ist, als er genau dies, seine Verhaftung nämlich, in der ihm eigenen, nicht sehr dezenten Art für den Dienstag vorausgesagt hatte. Nun ist Mittwoch – und wenn diese Sätze immer noch hier stehen und von Ihnen gelesen werden können, dann ist Donald Trump am Dienstag nicht verhaftet worden. Ansonsten hätte der SPIEGEL-Nachtdienst (dem hier einmal ein großer Dank ausgesprochen sei) sie nämlich gestrichen.

Womöglich kommt es so. Am Dienstag war es noch nicht so weit

Womöglich kommt es so. Am Dienstag war es noch nicht so weit

Foto: Peter Foley / EPA

Angeklagt werden könnte Trump womöglich trotzdem, als erster ehemaliger Präsident der USA überhaupt. Es geht um eine Schweigegeldzahlung an eine Frau namens Stephanie Clifford, besser bekannt als Stormy Daniels, Pornodarstellerin.

Ich weiß, man will das alles gar nicht so genau wissen. Mir geht es da wie Ihnen, aber die Sache muss ja einmal sauber erklärt werden: Die Frau behauptet, Sex mit Trump gehabt zu haben (ich habe hier lange nach einer anderen Formulierung gesucht, mir sind nur unpassende eingefallen). Er wiederum bestreitet das, und die Zahlung an sich ist nicht illegal. Problematisch für Trump könnte werden, dass die Trump Organization sie als Anwaltskosten verbuchte. So oder so: Sollte Trump angeklagt werden, dürften die USA beben. Ein guter Freund von mir, er hat Wurzeln in Österreich, sagt in solchen Fällen, es werde »einen ordentlichen Schepper tun«. In den nächsten Tagen könnte sich entscheiden, wie ordentlich er ausfällt, der Schepper.

Den Nachrichtenagenturen habe ich entnommen, dass an diesem Mittwoch außerdem Boris Johnson vor einem Parlamentsausschuss aussagen muss, der sich mit der sogenannten Partygate-Affäre beschäftigt. Es geht um illegale Feiern in der Downing Street während des Lockdowns. Und es geht um die Frage, ob Johnson das Unterhaus belogen hat.

Partygate, Schweigegeld, Porno. Das sind so die Tage, an denen ich ziemlich zufrieden mit unserem politischen Personal bin (an dem ich ja sonst gern mal herumkrittele). Falls Robert Habeck je erwogen haben sollte, eine illegale Lockdownparty zu feiern, hätte er sich höchstwahrscheinlich noch vor Eintreffen des ersten Gastes selbst angezeigt (und sein sehr, sehr nachdenkliches Bekennervideo selbstverständlich nicht nur an die Staatsanwaltschaft geschickt, sondern auch bei Instagram veröffentlicht). Und bevor Olaf Scholz mit einer... Nein. Schluss. Aus.

Es gibt Grenzen. Zumindest hierzulande. Und das ist auch gut so.

Eine Zahl und ihre Folgen

Apropos Robert Habeck. Der ist ja nicht nur Videodarsteller, sondern auch Bundeswirtschaftsminister und hat in dieser Funktion für heute zu einem »Windkraft-Gipfel« eingeladen. Es geht darum, das entnehme ich der Ankündigung, den Ausbau der Windenergie an Land (also nicht auf See) zu beschleunigen. Das wiederum führt mich zu einer Zahl, die mir seit einiger Zeit im Kopf herumspukt.

Vier bis fünf davon. Pro Tag

Vier bis fünf davon. Pro Tag

Foto: imago stock / imago images/BildFunkMV

Es ist eine Zahl, die der Kanzler neuerdings ständig in seinen Reden unterbringt: Bis 2030, sagt Olaf Scholz, sollten in Deutschland vier bis fünf neue Windräder pro Tag aufgestellt werden – im Schnitt. Nach meinen rudimentären mathematischen Kenntnissen bedeutet das, dass auf einen Tag mit null Windrädern einer mit acht bis zehn folgen müsste. Ich finde das ziemlich viel.

Ja, Deutschland hat eine Fläche von knapp 360.000 Quadratkilometern, das ist erst mal nicht so wenig. Es gibt auf diesen Quadratkilometern aber vergleichsweise viele Menschen und damit Dörfer und Städte, in denen schon mal keine Windräder gebaut werden können. Und es gibt sehr viele Menschen, die finden, dass Windkraft selbstverständlich eine fantastische Sache ist, nur eben nicht ausgerechnet in ihrer Nähe. Es gibt Bürgermeister, es gibt Bürgerinitiativen, Genehmigungsverfahren, Anhörungen. Und es gibt Markus Söder.

Da finde ich vier bis fünf schon eine sehr ambitionierte, um nicht zu sagen atemberaubende Zahl. Zumal man nicht vergessen darf, dass es noch eine Industrie gibt, die all diese Windräder erst mal produzieren und dann über die Autobahnen und Landstraßen der Republik zu ihrem Bestimmungsort transportieren muss. Was ja auch erst wieder einer Genehmigung bedarf.

Es gibt ein paar Felder, auf denen Deutschland dringend aufholen muss, allen voran die Digitalisierung. Aber ich glaube, die vier bis fünf Windräder am Tag sind ebenfalls kein schlechter Gradmesser dafür, wozu dieses Land noch in der Lage ist.

Neuigkeiten und Analysen zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:

Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz

Gewinner des Tages...

Philipp Ackermann

Philipp Ackermann

Foto: Deutsche Botschaft Indien / dpa

…ist Philipp Ackermann. Wenn Sie die gestrige Lage gelesen haben, könnten Sie das jetzt für einen Copy-and-Paste-Fehler halten, schließlich war Ackermann, der deutsche Botschafter in Indien, schon gestern unser Gewinner. Für ein Video hatte er mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seiner Botschaft auf offener Straße getanzt, zum oscarprämierten Song »Naatu Naatu«, und diese Form der diplomatischen Hüftbeweglichkeit hielt ich für auszeichnungswürdig. Aber offenbar habe ich Ackermann an einer Stelle unrecht getan. Meint er jedenfalls.

Auf die gestrige Lage hin hat er sich (mit einer sehr netten Nachricht) bei mir gemeldet und seine Freude über die freundliche Erwähnung zu Protokoll gegeben. Allerdings hätte ich ja nahegelegt, er sei wegen seiner tänzerischen Fähigkeiten in eine der hinteren Reihen verbannt worden. Das habe aber ganz andere Gründe gehabt. »Anders als suggeriert, bin ich ein hervorragender Tänzer.«

Was ich an Ackermann schon immer geschätzt habe, war sein Humor. Den Rest möchte ich hier einfach mal so stehen lassen.

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

  • Linkenchefin kritisiert Wagenknechts hohe Nebeneinkünfte: Mehr als eine Dreiviertelmillion Euro hat Sahra Wagenknecht in den letzten zwei Jahren nebenbei verdient – das sorgt in der Linkspartei für Verdruss. Chefin Janine Wissler wird nun deutlich.

  • Ugandas Parlament verabschiedet drakonisches Anti-LGBTQ-Gesetz: Die Abgeordneten im ugandischen Parlament haben ein Gesetz verabschiedet, das nicht nur das Schwulsein, sondern sogar das Wissen darum unter Strafe stellt. Human Rights Watch befürchtet weitreichende Folgen.

  • Habeck kritisiert Leistungsbilanz der Bundesregierung: Er ist unzufrieden damit, wie es in der Ampel läuft. Im Kabinett versteht man sich, sagt Robert Habeck im TV-Interview, aber dann bekommt man die Projekte nicht über die »Ziellinie«. Über einen Vorfall ärgert er sich extrem.

Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute

  • Jahrestag des ersten Lockdowns – Schon vergessen? Vor drei Jahren begann offiziell der erste Lockdown. Damals dachten Sie, Corona werde Ihr Leben verändern und heute wollen Sie am liebsten alles schnell abhaken? Was das für unsere Gesellschaft heißt. 

  • Warum Millionenerbin Marlene Engelhorn ihr Geld loswerden möchte: Als BASF-Gründer begann Friedrich Engelhorn, ein sagenhaftes Vermögen aufzubauen. Seine Urururenkelin Marlene hat viel davon geerbt – und fragt sich, ob das richtig ist. Auch weil das Geld zum Teil aus schmutzigen Geschäften stammt. 

  • »Sie sollen im Team die Peitsche schwingen!« Mal verlangt der potenzielle Chef, dass man als Quotenfrau gefälligst Rock tragen solle, ein anderer lädt Sonntagfrüh um 6.30 Uhr zum Gespräch. Was Unternehmen von Kandidaten verlangen – und wann diese aufstehen und gehen sollten. 

  • Wo Männer schmieren und polieren: Ob in der Drogerie oder im stylischen Salon: Kosmetik- und Pflegeprodukte für Männer boomen. Sogar Promis wie Harry Styles bringen eigene Linien auf den Markt. Die Veränderungen verraten viel über Rollenbilder. 

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihr Christoph Hickmann, stellvertretender Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten