
Die Lage am Morgen Europas Schande, Europas Chance

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit dem Elend der Flüchtlinge im berüchtigten Camp Moria, der aktualisierten Steuerschätzung, der Ökobilanz des Videostreams sowie dem ersten bundesweiten Warntag.
Moria brennt
Es hat wieder gebrannt gestern Abend im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, direkt vor der türkischen Küste. Noch einmal gebrannt, wie mein Kollege Giorgos Christides von vor Ort berichtet.
Der Großbrand in der Nacht zuvor hat gut 12.000 Menschen obdachlos gemacht. Nach SPIEGEL-Informationen verbrannten rund 70 Prozent der Zelte, Verschläge und Container.
Das Feuer und seine Folgen sind nicht nur eine menschliche Tragödie. Es symbolisiert auch das Scheitern der europäischen Asylpolitik.
Nichts ist geblieben von den hehren Plänen: In schnellen Asylverfahren sollten die Schutzbedürftigen gefunden und auf die EU verteilt, die anderen in die Türkei zurückgeschickt werden. Das war der EU-Türkei-Deal. Doch er funktionierte hier nicht, die Menschen strandeten. Ein auf rund 2800 Menschen ausgelegtes Flüchtlingscamp als “Freiluftgefängnis” für 12.000, wie mein Kollege Max Popp schreibt.
Die Europäer schauen seit Jahren zu.
Wir schauen seit Jahren zu.
Die Moralmacht EU hat den Friedensnobelpreis bekommen, sie hat sich zum “Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts” erklärt. Moria aber liegt innerhalb ihrer Grenzen. Wie passt das zusammen?
Und vor allem: Warum helfen wir nicht? Da sind Tausende Menschen in Not.
Gestern schrieb ich an dieser Stelle über die schwindende Solidarität nach so vielen Monaten der Coronakrise. Geht dieser Grundstoff menschlicher Beziehungen zur Neige? Haben wir deshalb keine Solidarität mehr übrig für weitere Mitmenschen, jenseits des Corona-Kontextes?
Klar ist: Den großen asylpolitischen Durchbruch in der EU wird es nicht geben, also die faire Verteilung der Flüchtlinge auf alle Staaten. Wer darauf wartet, verlängert das Elend der Menschen in Moria.
Stattdessen braucht es jetzt erneut eine Koalition der Willigen, wie sie etwa der Migrationsexperte Gerald Knaus immer anmahnt. Deutschland könnte vorlegen, vielleicht 5000 Flüchtlinge aus Moria aufnehmen. Andere werden folgen. Sicher nicht alle, aber manche. Das würde schon reichen.
Und dann? Noch einmal der Versuch: Rasches Prüfen von Asylanträgen. Zeitnaher Transfer in willige EU-Staaten. Gleichzeitig die schnelle und verlässliche Rückreise für jene, die nicht schutzbedürftig sind. Und damit das Signal senden, dass es sich nicht lohnt, ohne Schutzgrund nach Europa aufzubrechen. Das wäre Europas Chance, nach all dem Unglück.
Wer aber glaubt, ein Elendslager wie Moria erfülle einen ähnlichen Zweck, sende ein vergleichbares Signal, der handelt nicht nur zynisch und menschenfeindlich. Sondern er wird damit auch scheitern. Siehe die aktuelle Lage.
Was kostet die Krise?
Heute Nachmittag enthüllen die Steuerschätzer ihre Kalkulation: Mit wie viel weniger Steuergeld müssen Bund, Länder und Kommunen in nächster Zeit wegen der Corona-Pandemie auskommen?
Es ist schon die zweite Steuerschätzung in diesem Jahr, nach jener im Mai. Denn damals ließen sich die Auswirkungen der Krise nicht ausreichend absehen.
Finanzminister, Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz nimmt diese Schätzzahlen dann als Grundlage für den Haushalt 2021, den er Ende September im Kabinett vorlegen soll.
Gibt es schon ganz konkrete Zahlen?
Nein, die stehen erst am Nachmittag fest. Ich habe gestern Abend noch mal nachgefragt bei den Wirtschaftskollegen. Klar ist nur: Im ersten Halbjahr 2020 gaben Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes zufolge rund 50 Milliarden Euro mehr aus, als sie einnahmen. Und: Im kommenden Jahr wird der Staat wohl bis zu einem zweistelligen Milliardenbetrag weniger einnehmen als ursprünglich geplant.

Frust und Freiheit
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Streamen wir uns in die Klimakrise?
Eigentlich fühlt sich das digitale Leben doch ganz öko an. Streaming statt DVDs und CDs, flüchtige Daten aus der Wolke statt silbern schimmernder Objekte. In Corona-Zeiten sind die Nutzerzahlen von Netflix und Co. stark angestiegen.
Doch kommen die Filme ja nicht aus der Luft, sondern von einem Server. Und der braucht Strom. Ziemlich viel sogar.
Streaming als Klimakiller?
SPD-Umweltministerin Svenja Schulze hat bereits vor Monaten angemahnt, dass bei den Filmen nicht immer die höchste Auflösung eingestellt sein müsse. Zudem könnten Anbieter auf den Autoplay-Modus als Standardfunktion verzichten.
Heute will Schulze Forschungsergebnisse zur Ökobilanz von Streaming und digitaler Infrastruktur präsentieren.
Dann werden wir wissen, ob wir guten Gewissens Filme im Streamingdienst gucken können. Sonst bleibt nur die Videothek. Falls Sie noch eine finden.
Gewinner des Tages...
...ist der Alarm. Denn heute ist bundesweiter Warntag.
Kein Witz. Um Punkt 11 Uhr geht’s los. Horchen Sie mal. “Wenn am 10. September überall die Sirenen heulen und Ihr Radiosender sein Programm unterbricht, dann sollten Sie nicht erschrecken”, sagt Vizeregierungssprecherin Ulrike Demmer. Auch die Warn-App auf dem Smartphone werde anschlagen.
Sowas hat es wirklich lange nicht mehr gegeben. Seit der Wiedervereinigung nämlich nicht mehr. Künftig soll der Warntag an jedem zweiten Donnerstag im September stattfinden.
Mich stimmt das ein bisschen nostalgisch. Früher, in der Grundschule im westdeutschen Zonenrandgebiet, wurde regelmäßig die Schulsirene für den Fall des Atomschlags oder sonstiger Unpässlichkeiten ausprobiert. Nun sind leider mit der Sowjetunion und der DDR nicht alle Gefahren von der Weltbühne abgetreten.
Gut also, dass es jetzt wieder einen Warntag gibt.
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Ich wünsche Ihnen einen feinen Tag.
Ihr Sebastian Fischer