

Die Lage am Morgen Dreht Merkel der Pipeline den Hahn zu?

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit dem Sound der Kanzlerin im Fall Nawalny, dem nimmer endenden Brexit, der Aufrüstung deutscher Gesundheitsämter sowie gerichtlich verbotenen Radwegen.
Brexit? Oh, hello again!
Zu Beginn ein bisschen trockenes Politbrot zum Wachwerden. Coronakrise hin oder her, der Brexit bleibt uns erhalten. Und die Geschichte, sie scheint ewig gleich: EU und Vereinigtes Königreich ringen miteinander, zeigen sich jeweils voneinander enttäuscht, retten sich dann doch durchs Ziel.
Irgendwie.
Heute gibt es - Trommelwirbel - eine neue Verhandlungsrunde. Um den Brexit an sich geht es nicht mehr, die Briten haben am 31. Januar die EU verlassen. Stattdessen müssen nun bis Jahresende die künftigen Beziehungen geregelt werden, vor allem geht es ums Freihandelsabkommen. Bis Oktober soll eine Einigung her.
Aber so leicht ist es - natürlich! - nicht. Das aktuelle Ärgernis ist die Nordirland-Frage. Briten-Premier Boris Johnson will offenbar seine bisherigen Zusagen für den Status Nordirlands unterlaufen.
Und die gingen so: Zwischen der Republik Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Norden der Insel soll es keine harte Grenze geben. Dafür soll die Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien ein bisschen härter werden, etwa wenn nordirische Produkte, die über die Irische See gehen, als Exporte deklariert werden müssen. Verkürzt gesagt: Die Zollgrenze verläuft de facto nicht zwischen der Republik und dem Norden, sondern zwischen Nordirland und Großbritannien.
Das finden sie in London nicht gut. Tja. Wird Johnson das ändern können?
Lassen Sie mich kurz nachdenken.
Nein, wohl kaum.
Putins Pufferzone
In den Zwanzigerjahren schuf sich der Westen einen "Cordon Sanitaire" aus gepäppelten Staaten gegen die vermeintliche bolschewistische Gefahr: Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien sollten Sowjetrussland abschirmen.
Heute setzt der russische Präsident Wladimir Putin auch auf ein solches Pufferzonen-Konzept, nur andersherum.
Putin sucht Russlands direkte Nachbarn zu destabilisieren, damit sie der russischen Bevölkerung kein gutes, gar demokratisches Beispiel abgeben können. So etwa geschehen in der Ukraine.
Und demnächst in Belarus?
Dort gehen die Menschen weiterhin auf die Straße, demonstrierten gegen Diktator Lukaschenko. Der greift zu immer brutaleren Methoden. Gestern ließ er die prominenteste verbliebene Anführerin der Demonstranten festnehmen: Marija Kolesnikowa wurde in der Minsker Innenstadt in ein Auto gezerrt. Seitdem fehlt jede Spur von ihr.
Es wird nun an Putin liegen, wie es in Minsk weitergeht. Mein Moskauer Kollege Christian Esch schreibt: "Putin hat in einem Fernsehinterview Lukaschenko seine Unterstützung zugesagt - Russland habe dafür bereits eine ‘Reserve an Ordnungskräften’ bereitgestellt." Allerdings habe Putin es auch als Recht der Belarussen bezeichnet, auf die Straße zu gehen. Ein Besuch Lukaschenkos bei Putin ist geplant.
Wir müssen jedenfalls davon ausgehen, dass Putin die Dinge in Belarus nicht ihren demokratischen Gang gehen lässt - was auch immer er mit Lukaschenko macht.

Frust und Freiheit
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Der Fall Nawalny - alle Optionen auf dem Tisch
All die Jahre wackelte die Kanzlerin nicht beim Gaspipeline-Projekt Nord Stream 2. Annexion der Krim, Krieg in der Ostukraine, Kriegstreiberei in Syrien, Mord im Kleinen Tiergarten, Cyberangriff auf den Bundestag - die Aktionen des Systems Putin konnten der fast fertig gestellten zweiten Röhre zwischen Russland und Deutschland nichts anhaben.
Aber im Fall des vergifteten Kremlkritikers Alexej Nawalny sendete am Wochenende erst SPD-Außenminister Heiko Maas eine Warnung an Putin ("Hoffe nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nord Stream 2 zu ändern"), nun hat Angela Merkel nachgelegt.
Sie sei der Ansicht, "dass es falsch ist, etwas auszuschließen", sagte ihr Sprecher Steffen Seibert. Momentan sei es aber noch zu früh, die Frage nach Konsequenzen zu beantworten. Merkel arbeite "in dieser wichtigen Frage" mit dem Außenminister zusammen und schließe sich dessen Äußerungen an.
Ja, Merkel hatte diesen Sound auch schon letzte Woche während einer Pressekonferenz mit dem schwedischen Ministerpräsidenten getestet und gesagt, vieles hänge "von den jeweiligen Reaktionen der russischen Regierung ab". Doch hat die Kanzlerin nun die Lautstärke hochgedreht.
Das muss konkret noch nichts heißen. Es geht vornehmlich um Druckaufbau. Moskau und Berlin belauern sich. Und so gewinnen Merkel und Maas Zeit, um auf eine gemeinsame Haltung der EU hinzuarbeiten. Nichtsdestotrotz darf man sich in Merkel nicht täuschen. Schon in der Vergangenheit hat sie einmal plötzlich die politische Gelegenheit genutzt, um sich von einem Projekt zu verabschieden, das sie zwar zuvor stets verteidigt hatte, aber in der Öffentlichkeit schwer belastet war: die Atomenergie.
Die Verteidiger der Gaspipeline sind auf der Hut. Im heute erscheinenden, sehr lesenswerten SPIEGEL-Interview sagt Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig: Sie unterstütze die Forderung der Bundesregierung, dass die Vergiftung von Alexej Nawalny vollständig aufgeklärt werden müsse. "Da ist jetzt Russland am Zug", so Schwesig: "Aber dieses Verbrechen darf nicht dazu benutzt werden, Nord Stream 2 infrage zu stellen."
Anti-Corona-Pakt
Heute feiern Bund, Länder und Kommunen ihren "Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst". In einer virtuellen Konferenz wird die Kanzlerin mit Leitern von Gesundheitsämtern, mit Landräten und Oberbürgermeistern sowie Ländervertretern über den Kampf gegen das Coronavirus beraten.
Die etwa 400 Gesundheitsämter in Deutschland, so der "Pakt", sollen mehr als 4000 neue Stellen erhalten, die Bundesregierung stellt dafür rund drei Milliarden Euro zur Verfügung.
Es ist eine der Lehren aus dieser Krise - nach der auszehrenden Ära des Marktliberalismus: Der starke Staat schützt Menschenleben.
Verlierer des Tages…
…sind die Radfahrer. In Berlin hat das Verwaltungsgericht dem Eilantrag eines AfD-Abgeordneten gegen die sogenannten Pop-up-Radwege in der Hauptstadt stattgegeben.
Die sind während der Coronakrise auf Kosten von Autospuren entstanden, um mehr Platz für Radler zu schaffen und dadurch das Ansteckungsrisiko im öffentlichen Nahverkehr zu reduzieren. Die Pandemie könne aber nicht zum Anlass von Anordnungen genommen werden, so nun das Gericht, denn es handele sich dabei nicht um "verkehrsbezogene Erwägungen".
Stimmt schon. Denn tatsächlich steht ja hinter der Nummer mit den Pop-up-Radwegen, die es nicht nur in Berlin gibt, der politische Wille zur Verkehrswende. Denn die temporären Radwege, daran ließen zumindest die Berliner Verantwortlichen keinen Zweifel, sind gekommen, um zu bleiben.
Verloren ist noch nichts. Die Sache wird wohl vors Oberverwaltungsgericht gehen. Zudem hat Berlin ein "Mobilitätsgesetz" - das behandelt Fahrräder in der Verkehrsplanung vorrangig. Heißt: Am Ende kommt es nur auf die richtige Begründung für neue Radwege an.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Europäische Politiker fordern Freilassung von Oppositionellen in Belarus: Neben Bundesaußenminister Maas drängt nun auch die EU Belarus zur Aufklärung des Verschwindens von Marija Kolesnikowa. Litauen warnte vor einem Schulterschluss zwischen Machthaber Lukaschenko und Wladimir Putin
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Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Ihr Sebastian Fischer