Martin Knobbe

Die Lage am Morgen Einmal Schmutzkampagne, bitte!

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,

heute geht es um eine Firma, die Wahlen manipulieren kann, um das Schicksal der Hamburger Justizsenatorin und um Tendenzen in der Berliner Regierungsbildung.

Multiples Versagen

Wenn sich heute in der Hamburger Bürgerschaft der Justizausschuss trifft, dann könnte es für die grüne Justizsenatorin Anna Gallina eng werden. Das tödliche Messerattentat von Brokstedt wird einmal mehr die Hamburger Politiker beschäftigen: ein Fall, in dem von Tag zu Tag klarer wird, wie viel schiefgelaufen ist.

Am 25. Januar hatte der staatenlose Palästinenser Ibrahim A. in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg mit einem Messer auf andere Fahrgäste eingestochen. Zwei junge Menschen starben, fünf weitere wurden teils schwer verletzt. Knapp eine Woche zuvor war der 33-Jährige aus der Untersuchungshaft in Hamburg entlassen worden.

Hamburger Senatorin Gallina

Hamburger Senatorin Gallina

Foto: Marcus Brandt / dpa

Die Opposition im Hamburger Rathaus fordert nun den Rücktritt der Senatorin. »Frau Gallina hat dem Ausschuss vor zwei Wochen nicht die Wahrheit gesagt. Inzwischen wissen wir: Es hat in Hamburg schwere Versäumnisse im Umgang mit Ibrahim A. gegeben. Hamburg hat Informationen entweder gar nicht, falsch oder zu spät weitergeleitet«, sagte CDU-Fraktionsvize Richard Seelmaecker gestern Abend meinem Kollegen Ansgar Siemens. »Frau Gallina muss zurücktreten. Tut sie das nicht, muss der Bürgermeister sie entlassen.«

Gallina hatte bei einer ersten Anhörung im Justizausschuss vor zwei Wochen verschwiegen, dass sich der mutmaßliche Täter in der U-Haft mit dem islamistischen Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, verglichen hatte. Sie habe die laufenden Ermittlungen nicht gefährden wollen, erklärte die Grünenpolitikerin. Und: Die »entscheidenden Informationen« zu Ibrahim A. seien »an die entscheidenden Stellen gelangt«.

Damit wollte Gallina offenbar klarstellen, dass Hamburg die zuständige Ausländerbehörde in Kiel über den Beginn der U-Haft und das Strafverfahren gegen A. informiert habe. Skurrilerweise teilte am Tag der Ausschusssitzung, es war der 2. Februar, das Landgericht Hamburg der Ausländerbehörde schriftlich mit, dass die U-Haft beendet worden sei – da war das Attentat längst passiert.

Wären die Informationen besser geflossen, hätte Ibrahim A. womöglich abgeschoben werden können. Das zumindest deutete Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kürzlich an. »Wir haben versucht, an ihn ranzukommen«, sagte Faeser. »Hätten wir gewusst, dass er in U-Haft sitzt, hätten wir ihn anhören und dann abschieben können.«

Es dürfte eng für die Senatorin werden.

Einmal Schmutzkampagne, bitte!

Es gibt Geschichten über Begebenheiten, von denen man weiß, dass sie möglich sind – die aber so unglaublich klingen, dass man sie lieber für ein Fantasma hält. Meine Kolleginnen und Kollegen haben in einer halbjährigen Recherche zusammen mit internationalen Partnern um die Investigativredaktion Forbidden Stories eine solche Geschichte recherchiert und aufgeschrieben. Ach, was, Geschichte – ein Agententhriller!

Demnach hat ein israelisches Unternehmen offenbar über viele Jahre weltweit Wahlen manipuliert. Dafür hackten die Mitarbeiter, darunter ehemalige Agenten, nach eigenen Angaben die Konten hochrangiger Politiker, sie steuerten groß angelegte Fake-News-Kampagnen und unterhielten zu diesem Zweck zum Beispiel eine Armee von mehr als 30.000 glaubwürdig anmutenden Fake-Konten auf Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram oder Twitter.

Gezielte Schmutzkampagnen etwa gegen einen politischen Gegner konnte man wohl bei diesem Unternehmen ebenso bestellen wie tiefgehende Finanzrecherchen über Personen oder fabrizierte Skandale. Die Firma hat nach eigenen Angaben bislang in 33 nationale Wahlkämpfe und Abstimmungen eingegriffen, in 27 Fällen will sie erfolgreich gewesen sein. »Team Jorge«, benannt nach dem Tarnnamen seines Bosses, ist ein Dienstleister für Diffamierung. »Jorge« selbst weist übrigens jegliches Fehlverhalten zurück.

Reportern von »The Marker«, »Haaretz« und Radio France war es gelungen, sich als vermeintliche Interessenten des Unternehmens auszugeben – und ins Gespräch mit den Fake-News-Anbietern zu kommen. Herausgekommen ist eine unglaublich spannende und erschütternde Geschichte.

»Die Enthüllung zeigt, wie verwundbar demokratische Prozesse und politische Abläufe für Manipulationen sind. Und wie ruchlos diejenigen agieren, die aus der Zerstörung der Wahrheit ein Geschäft gemacht haben«, sagt mein Kollege Jörg Diehl, der für den SPIEGEL die aufwendigen Recherchen koordinierte.

Rot-Rot-Grün in Sicht

Die Frage, welche Koalition künftig die ja nicht ganz einfache Stadt namens Berlin regieren wird, kann man beantworten, indem man auf die formalen Schritte blickt: Die CDU als stärkste Kraft hat die SPD zu Gesprächen eingeladen, die SPD will die Einladung annehmen. Erst danach, so heißt es, will sie Kontakt zu ihren bisherigen Bündnispartnern, den Grünen und den Linken, aufnehmen. Schritt für Schritt.

Herausforderer Wegner, Amtsinhaberin Giffey

Herausforderer Wegner, Amtsinhaberin Giffey

Foto: Sebastian Christoph Gollnow / dpa

Man findet die Antwort aber auch in politischen Äußerungen, etwa der Parteivorsitzenden Saskia Esken. Bisher habe sich die Berliner CDU ideen- und konzeptlos gezeigt, sagte Esken bei einem Besuch bei der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg. Im Wahlkampf zur Abgeordnetenhauswahl sei es der CDU in erster Linie darum gegangen, »die Stadt schlechtzureden, auch in Teilen darum, die Bevölkerung zu spalten, indem man die einen gegen die anderen ausspielt«.

Es klang nicht so, als schreibe Esken der Union eine große Bündnisfähigkeit zu.

Ich bleibe also bei meiner Prognose von gestern: Rot-Rot-Grün wird am Ende weitermachen.

Übrigens muss ich hiermit einen Artikel vom Wahlsonntag  korrigieren, an dem ich beteiligt war. »Berlin kann's doch«, erklärten wir als eine von fünf Lehren aus der Wiederholungswahl und behaupteten: »Diesmal blieb das Chaos aus.«

So ganz stimmt das nicht, denn wie mein Kollege Veit Medick gestern exklusiv erfahren  hat, wurden im Bezirk Lichtenberg 450 vorliegende Briefwahlstimmen versehentlich nicht mitgezählt. Keine unerhebliche Zahl, wenn man bedenkt, dass die SPD die Grünen mit nur 105 Stimmen überholt hat.

Die Wahlzettel werden nun ausgezählt und ins endgültige amtliche Wahlergebnis mit einberechnet.

Und wir korrigieren uns: Berlin kann's nicht wirklich.

Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:

  • Die jüngsten Entwicklungen: Die Lage an der Front im Osten der Ukraine bleibt extrem angespannt. Washington ordert Munition für die ukrainische Armee. Und: Philosoph Jürgen Habermas wirbt für Verhandlungen. Der Überblick.

  • Putin fährt offenbar fast nur noch mit gepanzertem Sonderzug: Was haben Wladimir Putin und Kim Jong Un gemeinsam? Mindestens, dass sie beide mit gepanzerten Spezialzügen fahren. Seit einiger Zeit ist auch der russische Machthaber offenbar am liebsten auf der Schiene unterwegs.

  • Baerbocks Sicherheitsmission: Außenministerin Baerbock besucht die Nato-Aspiranten Finnland und Schweden. Die Grüne wirbt für ein Sicherheitsverständnis, das über Militärisches hinausgeht. Aber auch sie muss Panzerdiplomatie betreiben. 

  • Zwei Brüder mit deutschem Panzergeschütz: Jevhen und Dmytro sind am 24. Februar 2022 zusammen in den Krieg gezogen. Jetzt kämpfen die Brüder am brutalsten Frontabschnitt bei Bachmut – und profitieren von einem Haubitzentraining in Deutschland. Das Video.

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Gewinnerin des Tages...

Kandidatin Haley

Kandidatin Haley

Foto: EVELYN HOCKSTEIN / REUTERS

...ist die republikanische Politikerin, Ex-Gouverneurin von South Carolina und ehemalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen in New York, Nikki Haley. Sie will amerikanische Präsidentin werden und beginnt heute in Charleston ihren Wahlkampf.

Politisch gilt die Republikanerin als streng konservativ, sie wettert gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und Schwangerschaftsabbrüche, gegen die »sozialistische Linke« und »das Establishment in Washington«. Und auch wenn ihr laut ersten Umfragen im republikanischen Kandidatenrennen keine großen Chancen zugeschrieben werden, ist ihr Schritt, als Frau gegen einen Platzhirsch mit Amtsbonus namens Donald Trump anzutreten, recht mutig.

In ihrem ersten Wahlkampfvideo führt Haley denn auch ein Argument an, das ihr nicht nur im Rennen gegen Trump hilft, sondern womöglich später gegen Amtsinhaber Joe Biden: ihr Alter. »Es ist Zeit für eine neue Generation der Führung«, sagt Haley.

Mit ihren 51 Jahren ist Haley 25 Jahre jünger als Trump – von Biden trennen sie fast 30 Jahre.

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  • »Wir müssen Co-Working-Spaces auf dem Land ganz neu denken«: Frederik Fischer hilft Kommunen dabei, Großstädter in die Provinz zu locken – unter anderem mit Gemeinschaftsbüros. Doch die meisten Schreibtische bleiben leer. Warum Fischer trotzdem an seine Idee glaubt .

Ich wünsche Ihnen einen erlebnisreichen Mittwoch.

Ihr Martin Knobbe, Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros

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