
Die Lage am Morgen »Deep Fake« oder politische Aktionskunst?

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute versuchen wir Aufklärung in die gestrige Verwirrung um den »CDU-Zukunftsrat« zu bringen. Wir beschreiben den Kampf um Ursula von der Leyens Klimaplan und blicken auf die Niederlande und ihre fatale Drogenpolitik.
Die Sache mit dem »CDU-Zukunftsrat«
Chapeau, liebe Rosa Schneider vom sogenannten CDU-Zukunftsrat! Sie hatten mir vorgestern auf einige Fragen so ausführlich zurückgeschrieben, dass es die Gründungspressekonferenz Ihrer neuen Truppe bis in die gestrige Morgenlage schaffte. Die dpa hatte in ihrer Tagesvorschau auf den Termin hingewiesen, so war ich auf Sie gestoßen.

CDU-Zentrale in Berlin: »Deep Fake« einer Aktivistengruppe?
Foto: Christoph Soeder / dpaErst nach Versenden des Newsletters und einer Mitteilung aus Unionskreisen wurde mir klar, dass so richtig viel hinter Ihrem CDU-Zukunftsrat nicht stecken kann, vor allem keine CDU. Deshalb haben wir gestern die Ankündigung auf Ihre Veranstaltung wieder gelöscht, da sie irreführend war – und uns bei unseren Leserinnen und Lesern entschuldigt. Andere Medien, auch die dpa, reagierten ähnlich.
Als »Deep Fake« hatte CDU-Bundesgeschäftsführer Stefan Hennewig Ihre Gründungsaktion bezeichnet, das wiederum hielte ich für zu viel der Ehre. Schließlich sind Sie keine von der künstlichen Intelligenz erschaffenen Fake-Profile oder Trolle, sondern echte Menschen, die gestern, so stellt es sich mir dar, einen Akt politischer Aktionskunst hingelegt haben, wenngleich auch mit ein paar technischen Wacklern.
Recherchiert man Ihre Namen und Gesichter, so stößt man auf eine Henriette »Hetty« Schneider, die eine Zeit lang in Russland verbracht hat und hoffte, sich bei »Fridays for Future Russia« einbringen zu können. Ihre Mitstreiterin Manon Gerhardt, die wohl wirklich so heißt, war mal in einem Presseteam der Umweltaktivisten von »Extinction Rebellion«. Und Ihr Kollege, der sich Karl Steinlein nennt, ist unter dem Vornamen Friedrich als Schauspieler aus Berlin-Neukölln zu finden.
Als wir gestern nochmals telefonierten, räumten Sie ein, dass die allermeisten Ihrer zehnköpfigen Gruppe aus der Umweltbewegung kommen. Zugleich betonten Sie, dass Sie kein »Fake« seien, mit Ihren echten Nachnamen aufträten, nicht mit »Extinction Rebellion« zusammenarbeiteten und mit Ihrem Projekt weitermachen wollten, da Sie den Einfluss der Wirtschaftslobby auf die CDU für zu groß, den der Klimaschutzlobby für zu klein halten.
Das Problem ist nur, dass Sie so viel mit der CDU gemein haben wie Friedrich Merz mit den Baumbesetzern vom Hambacher Forst. Und deshalb, vermute ich, wird man in der Union nicht allzu viel auf Sie hören.
So war es am Ende ein amüsant-verwirrender Moment in diesem sonst so verbissenen Wahlkampf, für den ich gern auch ein wenig Spott über mich ergehen ließ.
Bestimmt kein Fake: Wie viel Klimaschutz steckt im CDU-Wahlprogramm? Eine Analyse meiner beiden Kollegen Sebastian Spallek und Kurt Stukenberg in ihrem Podcast
Der Fitnessplan der EU

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen (2020): Vorstellung des Green Deal
Foto: Etienne Ansotte/ European Commission/ DPAEs hört sich an wie der Titel der neuen »Brigitte«-Diät, in Wahrheit verbirgt sich dahinter ein Mammutprojekt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will heute Mittag ihren »Fit for 55«-Plan vorstellen, ein Paket aus zwölf Gesetzen, die sicherstellen sollen, dass die EU ihren Treibhausgas-Ausstoß bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 senkt und bis 2050 komplett klimaneutral wird.
Doch unter den 27 EU-Kommissarinnen und Kommissaren gibt es offenbar erhebliche Meinungsverschiedenheiten, wie mein Kollege Markus Becker aus Brüssel herausgefunden hat. Deren Kabinettschefs saßen demnach in einer Krisensitzung nach der anderen, am Freitag nach Teilnehmerangaben rund fünf Stunden lang, am Montag zwölf, am Dienstag ging es vormittags stundenlang weiter.
Nun geht es tatsächlich um kaum weniger, als die komplette Wirtschaft der Europäischen Union umzukrempeln – und das binnen weniger Jahre. Energie aus Kohle, Gas oder Erdöl soll deutlich verteuert werden, um den Umstieg auf grüne Technologien zu finanzieren. Autos sollen immer weniger CO₂ ausstoßen und im Jahr 2035 womöglich gar keins mehr – es wäre das Ende des Verbrennungsmotors in der EU. Zudem könnte das Emissionshandelssystem auch auf Gebäude ausgedehnt werden. Wie das alles sozial verträglich umgesetzt werden soll, ist bisher offen. »Der Streit über die Details dürfte nicht nur Brüssel noch lange beschäftigen«, sagt Markus Becker.
Ob der Plan gelingt, hängt wohl auch davon ab, welchen Ton Ursula von der Leyen heute für das revolutionäre Vorhaben anschlägt.
Der Traum vom klimaneutralen Europa – eine kritische Analyse meiner Kollegen Michael Sauga und Stefan Schultz lesen Sie hier
Unberechenbare Schwester

Kloster Seeon: Politischer Seismograf
Foto: Matthias Balk/ dpaDie traditionelle Klausurtagung der CSU-Landesgruppe des Bundestags in Seeon am Chiemsee ist auch ein Seismograf für das Verhältnis der beiden Schwestern CDU und CSU. Man denke nur an 2018, als der damalige Parteichef Horst Seehofer Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán als Gast zur Neujahrsklausur ins Kloster einlud, um ein Zeichen gegen die Flüchtlingspolitik Angela Merkels zu setzen (was Seehofer natürlich bestreiten würde).
Wenn die CSU-Landesgruppe ab heute in Klausur geht, ist die Frage spannend, wie groß im Wahljahr die Absetzbewegungen zur Schwesterpartei ausfallen werden. Zuletzt hatte sich CSU-Chef Markus Söder gegenüber dem Kanzlerkandidaten Armin Laschet für seine Verhältnisse erstaunlich solidarisch gezeigt, doch zumindest thematisch werden die Christsozialen ein paar Duftmarken setzen wollen.
Das Thema Mütterrente wird zur Sprache kommen, ein Ur-Anliegen Söders, das es nicht ins gemeinsame Wahlprogramm geschafft hat. Um Steuererleichterungen wird es gehen: Die CSU will sie, Laschet hatte sich zuletzt eher ablehnend geäußert. Es wird auch von der Tagesform der beiden Parteichefs abhängen, wenn sie am Donnerstag in Seeon aufeinandertreffen. Nutzt Söder seine Hausmacht für einen starken Auftritt oder überlässt er Laschet großmütig das Feld, wohl wissend, mitten im Wahlkampf zu stecken?
Rückblick 2018: Als Viktor Orbán ins Kloster kam. Den Text von damals lesen Sie hier
Lesetipp des Tages
Ich möchte Ihnen einen Beitrag der zwei Kollegen Koen Voskuil und Yelle Tieleman vom »Algemeen Dagblad« in den Niederlanden ans Herz legen, der mich sehr beeindruckt und berührt hat. Sie schreiben über den brutalen Anschlag auf den Kriminalreporter Peter R. de Vries . Sie beschreiben vor allem aber, wie erschreckend weit die Macht der Drogenkartelle in unserem Nachbarland schon vorgedrungen ist.
Es war kurz nach dem Anschlag, als es Drohungen gegen »RTL Boulevard« gab, also jene Sendung, in der de Vries ein regelmäßiger Kommentator war. RTL habe danach entschieden, die geplante Sendung nicht auszustrahlen, was ein Novum gewesen sei, schreiben die beiden Reporter und kommen zu dem Fazit: »Die kriminelle Unterwelt hat in den Niederlanden den Journalismus zum Schweigen gebracht.«
Es sind Beispiele wie diese, die belegen, wie den niederländischen Behörden durch eine falsche Laissez-faire-Politik die Kontrolle über die Kartelle entglitten ist – und Gangsterbosse wie ein Mann namens Ridouan Taghi offenbar selbst aus dem Gefängnis heraus gegen ihre Feinde agieren können. Der Text ist auch eine Mahnung an die hiesige Politik, eine Warnung vor zu viel Liberalität in der Drogenpolitik.
Den Gastbeitrag lesen Sie hier
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Ich wünsche Ihnen einen ruhigen Start in den Tag.
Ihr Martin Knobbe