
Die Lage am Morgen Die Zugbrücken gehen nach oben

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen!
Heute blicken wir auf Europa, das zur Insel wird, wir blicken auf uns selbst und auf eine kuriose Kabinettssitzung.
Trutzburg Europa
Der Traum aller Rechtspopulisten und Isolationisten ist gestern wahr geworden: Europa schottet sich ab. Nur noch EU-Bürger dürfen einreisen, alle anderen, bis auf wenige Ausnahmen, werden abgewiesen. Das haben die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten in einer Videoschalte besprochen und beschlossen. Die Bundespolizei hat noch am Abend die entsprechenden Anweisungen erhalten, an den Flughäfen Nicht-EU-Bürger abzuweisen. Die Zugbrücken Europas, sie gehen nach oben. Ein Fest für die AfD, mag man meinen.
Der einzige Schönheitsfehler aus rechtspopulistischer Sicht: Nicht die Migration ist der Grund für diesen harschen Schritt, sondern Sars-CoV-2. Es ist ein weiterer Versuch der Eindämmung, der Verlangsamung, der Panikvermeidung, es wird nicht der letzte gewesen sein.
Noch zögert die Politik, eine Ausgangssperre durchzusetzen, die sie mit Sicherheit so nicht nennen würde. Sie zögert wohl auch aus der Furcht heraus, die breite Akzeptanz in der Gesellschaft für eine Freiheitsbeschränkung nach der anderen könnte gebrochen werden. Steigen aber die Zahlen der Infizierten, also der schwer Erkrankten, also der Toten weiter stark an; versammeln sich nach wie vor Menschen in vollgestopften Cafés und Restaurants und feiern private Partys mit reichlich Körperkontakt, dann wird auch dieser Schritt unumgänglich sein, davon gehen die Experten aus.
Zugleich fände ich interessant, ob man dann, wenn alles vorbei ist, wenn irgendwann der alte Alltag in unser Leben zurückgekehrt ist, evaluieren kann, ob all das, was wir bereitwillig und schulterzuckend akzeptiert haben, tatsächlich nötig gewesen wäre. Ich fürchte nur, wir werden es nie erfahren.
Heute wird sich das Bundeskabinett mit den aktuellen Fragen rund um Corona beschäftigen, mit der geplanten Luftbrücke für gestrandete Deutsche und vielleicht auch mit der Frage, ob nach Schließung der Außengrenzen die vielseitigen Kontrollen innerhalb der EU überhaupt noch nötig sind.
Auch in Deutschland gelten strenge Einreiseregeln an den Grenzen zu Österreich, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Dänemark. Eine Maßnahme, die Bundesinnenminister Horst Seehofer durchgesetzt hat. Nicht unbedingt zur Freude der Kanzlerin, wie sie bei ihrem gestrigen Auftritt durchscheinen ließ: Durch die Staus kämen auch die Warenströme ins Stocken, sagte Angela Merkel, und wichtige Berufspendler, etwa aus dem medizinischen Bereich, seien auf einen reibungslosen Grenzübertritt angewiesen. Es wäre ein Novum, würde man diese Maßnahmen wieder zurücknehmen. Es wäre die erste Lockerung im strengen Corona-Korsett.
Der andere Journalismus
Auch die Redaktion des SPIEGEL arbeitet nun fast ausschließlich im Homeoffice. Auch wir Reporter gehen nur noch für wichtige Recherchen nach draußen, was gänzlich gegen den Grundsatz unserer Arbeit verstößt, die Welt sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken zu wollen.
Die Politiker, über die wir schreiben, erleben wir nun häufiger auf dem Bildschirm im Livestream, als dass wir sie leibhaftig vor uns hätten. So entgehen uns bisweilen Details, die von der Kamera nicht eingefangen werden. Etwa das hintergründige Gespräch nach dem offiziellen Statement, der spontane Satz nach Verlesen der Presseerklärung. Details also, die auf den Menschen hinter der professionellen Fassade blicken lassen, die Authentizität offenbaren. Wir versuchen das zu kompensieren: mit vielen, sehr vielen Telefonaten, mit Videointerviews und Hintergrundchats. Und manchmal bleibt eben doch nur ein persönliches Treffen, natürlich im gebotenen Abstand.
Unser Journalismus wird sich verändern, je mehr das öffentliche Leben zum Erliegen kommt. Unser Ziel aber bleibt unverändert: Gerüchte von Fakten zu trennen, die wahre Struktur und Farbe hinter dem Oberflächenanstrich zu sehen, den kritischen Blick auf alles zu haben, was uns Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft präsentieren. Auch in Zeiten, in denen die Solidarität vielleicht noch nie so wichtig war, darf dieser Blick keinesfalls milder werden.
Wir experimentieren also, auch in unserer Arbeit, und wir bemerken dabei, wie wohlwollend und interessiert unsere Leser das begleiten. Darüber freuen wir uns.
Absurde Zahlen
Heute berät das Kabinett laut Ankündigung die Eckwerte des Bundeshaushalts 2021. Demnach steigen die Ausgaben, es soll mehr Investitionen geben, etwa im Verkehr. Mehr Geld geplant ist auch für Verteidigung, Entwicklung, Bildung und Forschung. Zugleich sollen keine neuen Schulden aufgenommen werden, um den Haushalt auszugleichen. Falscher Film?
Es klingt wie eine Reminiszenz an die "gute alte Zeit". Tatsächlich ist das Zahlenwerk, das heute diskutiert wird, gänzlich coronafrei und damit Makulatur. Wie der tatsächliche Haushalt aussehen wird, lässt sich heute noch nicht erahnen. Ohne neue Schulden wird er wohl nicht auskommen.
Biden weiter vorn
In den USA, so scheint es, ist Joe Biden kaum noch aufzuhalten. Ein Sieg bei den Vorwahlen in Florida, so hatte es im Vorfeld geheißen, würde ihn der demokratischen Nominierung für die Präsidentschaftskandidatur ein gehöriges Stück näher bringen. Es wurde nicht nur ein Sieg - es wurde ein Triumph. Nach den bisher vorliegenden Prognosen könnte Biden seinen letzten ernst zu nehmenden Verfolger Bernie Sanders mit rund 40 Punkten Vorsprung deklassiert haben. Auch in Illinois und Arizona liegt Barack Obamas früherer Vize vorn.
In einer ersten Reaktion ging Biden auf seinen sozialistischen Kontrahenten zu. Beide hätten, so Biden, vielleicht unterschiedliche Ansichten zur "Taktik, aber wir teilen eine gemeinsame Vision". Die Antwort von Sanders' Sprecherin Briahna Joy Gray bei Twitter allerdings war kühl und knapp: "Tun wir nicht."
Gewinner des Tages ...
... könnte das Kabinett sein, wenn es heute wie geplant beschließt, einen Ausschuss zu bilden, der sich um Rassismus und Rechtsextremismus kümmert. Damit wäre eine Forderung von Experten und Migrantenverbänden erfüllt, damit wäre das Thema dort angesiedelt, wo es hingehört: ganz oben.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Die Entwicklungen zum Coronavirus am Mittwoch: Der Weltärztepräsident ist "kein Freund des Lockdown". Die Deutsche Justiz-Gewerkschaft fordert eine zweiwöchige Schließung der Gerichte. In Las Vegas schließen Casinos. Tom Hanks ist gefrustet. Das News-Update
Reaktion auf US-Maßnahmen - China ordnet Ausweisung von US-Journalisten an: Die USA haben kürzlich neue Beschränkungen für die Ableger chinesischer Staatsmedien im eigenen Land erlassen. Nun reagiert China - und weist Mitarbeiter von "New York Times", "Wall Street Journal" und "Washington Post" aus
Nach Gespräch mit Erdogan - Merkel zu höheren EU-Ausgaben für Flüchtlingspakt mit Türkei bereit: Die Aufnahme von Flüchtlingen lässt sich die türkische Regierung von der EU mit Milliarden bezahlen - nun könnte schon bald mehr Geld fließen. Deutschland und Frankreich wollen die Mittel aufstocken
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Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag mit vielen Ideen, wie Ihr Alltag ganz neu gestaltet werden kann.
Herzlich
Ihr Martin Knobbe